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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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auf die Innenfläche der Tür schreiben? Und ich rechnete, kalkulierte, endlos. Ich versuchte die Fasern in der Wolldecke zu zählen, die Fliegenschisse auf der Fensterscheibe, die Reiskörner in der Suppe. Ich sagte das Vaterunser von hinten nach vorn auf und probierte das gleiche mit der Glocke von Schiller, tagelang, bis ich vor Angst, toll zu werden, wie ein Hund heulte. Immer hört ich's klirren, von überallher hört ich Schritte. Als es Winter wurde, so gegen Ende November, Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich immer die Daten anführe, ich muß chronologisch vorgehen, damit ich den Fortgang nicht aus dem Aug verliere, Ende des Jahres also wurd ich ziemlich schwer krank. Im Lazarett lag ich in einem Raum mit sechs andern. Drei waren aus meiner Gruppe, ich kannte sie vom täglichen Spaziergang her. Es waren lauter schwere Jungens. Einer von denen, die mir fremd waren, hatte eine klaffende Kopfwunde, wenn sie aufgebunden wurde, sah man ins Gehirn hinein. Es war verboten zu sprechen, aber manchmal konnten wir doch ein paar Worte miteinander wechseln. Gesichtsmasken trugen sie hier natürlich keine. Im Arbeitssaal, beim Gottesdienst und beim Spaziergang mußten wir ja damals noch die Masken tragen. Zwei waren Lebenslängliche, einer hatte aber schon zwanzig Jahre abgesessen und rechnete damit, daß er in fünf Jahren herauskam. Er sprach unaufhörlich davon, mit lodernden Augen, als ob fünf Jahre wie fünf Tage wären. Einer war bis vor kurzem in einem badischen Zuchthaus gewesen und hatte in den letzten Tagen dort eine Hinrichtung mit angesehen, die vor seinem Fenster stattfand. Es hatte ihm so furchtbaren Eindruck gemacht, daß er fortwährend Konvulsionen hatte. Ich schaute mir die Leute an. Ich schaute sie mir an wie ein Entdeckungsreisender, der auf eine unbekannte Insel gerät und eine neue Menschenspezies findet. Mein erschrockener Gedanke war: jetzt bist du sieben Jahre im Haus und hast noch keinen Schimmer von keinem einzigen unter ihnen. Da sind doch deine Menschen, dacht ich, da ist doch deine Welt. Aus den andern Zimmern hört ich bisweilen einen im Fieber phantasieren. Einer schluchzte unaufhörlich, Tag und Nacht. Der Doktor bezeichnete ihn als Simulanten. Er wurde aber bald nachher ins Irrenhaus geschafft. Mein Bettnachbar, ein kleiner Rothaariger, erzählte mir viel, immer mit flüsternder Stimme, von sich und von den Kameraden. Mir gingen die Augen auf. Zuerst mal sah ich, wenn es noch ein Jahr mit mir so fortgegangen wäre wie bisher, hätt ich auch ins Irrenhaus gemußt. Davor zitterte ich. Warum will man seine Zukunft behalten? Warum will man leben? Es ist ein Rätsel. Auf einmal, Sie mögen es glauben oder nicht, hatte mein Leben wieder einen Inhalt. Als ich abließ, mich selber zu vernichten, entstand, wie ein schüchternes Hähnchen, wieder so was wie ein Selbst in mir . . .«
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    »Wie lang sind Sie im Lazarett gelegen?« fragt Herr von Andergast mit brüchiger Stimme. Die Beantwortung der Frage ist ihm weniger wichtig als die eigene Stimme zu hören, er hat Angst, er könne nicht sprechen. – »Neun Wochen«, erwidert Maurizius. »Als ich wieder gesund war und in die Zelle zurückkam, meldete ich mich beim Direktor und trug ihm den Wunsch vor, daß ich zwei oder drei Tage in der Woche zum Gangauskehren oder in der Küche beschäftigt würde. Er schlug mir's ab, man schlägt prinzipiell ab, was einer erbittet, einen Monat später, gleich nach der großen Revolte und als der Minister im Haus gewesen war, wurde es bewilligt.« – »Ich erinnere mich«, nickt Herr von Andergast und legt die Linke, an der der Diamantring funkelt, über die Augen, »ich erinnere mich an diesen Aufstand. Eine üble Affäre . . .« – »Ja, wenn Sie wollen, eine üble Affäre . . .« – »Sie waren selbstverständlich nicht beteiligt?« – »Nein.« – »Es wurden damals sechs Leute niedergeschossen, wenn mich das Gedächtnis nicht trügt.« – »Nein, es trügt Sie nicht. Sechs niedergeschossen, dreiundzwanzig verwundet.« – »Wie kam es denn dazu?« – Maurizius lächelt fahl. »Würmer im Brot vielleicht«, entgegnet er spöttisch. Es ist, als sage er sich: Da ist Hopfen und Malz verloren. In Wahrheit ist auch dies nur eine Schein- und Deckfrage, in Wahrheit steht es so, daß der Oberstaatsanwalt nur noch in einer Art Geistesverkrampfung den gewohnten Signalisierungen folgt (in bezug auf Haltung, Rang, Distanz, Information usw.), wie jemand, der sich mit aller Gewalt an letzte Bindungen klammert,

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