Der Fall Maurizius
Viertelstunde mehr aushalten, die Türen müssen sich auftun, jetzt, in der Sekunde, die Zeit, die vergeht, ist nicht wahr, wenn du morgen nicht zu ihr hinkannst, wird dir das Hirn zerplatzen, die Mauern und Riegel und Tore sind nicht, und doch, großer Gott: sie sind! In irgendeiner Stadt, in irgendeinem Haus lebt sie, atmet, denkt, schläft, und hier: nie mehr. Es begreift sich nicht, Herr. Freilich, Sie werden einwenden: die Schuld. Schuld hatt ich wahrhaftig genug aufgehäuft. Mensch scheidet sich vom Menschen durch die Schuld. Weib vom Mann. Das Gericht ist ergangen, wenn auch für die falsche Schuld, aber verdammt bist du für deine, vielleicht war sie schwerer, als du weißt. Begreifst du's nicht, so trag's unbegriffen. Aber das gilt alles nur für eine gemessene Zeit. Opferglut und Ekstase können nur so lange dauern, wie man das Sehnsuchtsbild festhalten kann. Auf einmal bäumt sich das Tier im Fleische dawider auf. Warten, warten: Es geht nicht weiter. Da kriegt das Tier die Oberhand, und man ist nicht mehr verantwortlich für das, was geschieht. Das Sehnsuchtsbild erlischt. Anna ist nicht mehr Anna. Es ist kein liebendes Bewußtsein mehr da. Euer Richtspruch scheidet Mann vom Weib, die Einrichtung macht die Natur in einem zur Bestie. Die Verzweiflung gebiert das heimliche Laster. Die Einrichtung sagt: was soll ich tun? ich kann nicht helfen. Zu denken, wie es da unten zugeht, bei denen, die kein Sehnsuchtsbild zu verlieren haben. Sie besitzen nur, was das Gedächtnis der Sinne aufbewahrt hat, Dirnenbilder, die zerfleischen sie. Lustmörder alle miteinander. Ich habe Entmenschungen gesehen . . . oh! Auch ich hatte schließlich keine Gewalt mehr darüber. Das Sehnsuchtsbild zersplitterte wie Holz unterm Beil. Aus Begriff und Erinnerung wuchsen Schatten, aus Schatten Leiber, Frauen, Frauen, Frauen, keine hatte ein Gesicht, nur Brust, Bauch, Schenkel, warme Haut, kitzelndes Haar, etwas Betäubendes von purem Geschlecht, das einen anfiel wie glühender Regen und das Blut in dicken Schleim verwandelte, den Gaumen in ein Stück Leder, das Haar in eine Schweißhaube. Keine Ruhe, es jagt einen durch die Zelle bei Tag und bei Nacht, legt man sich einen Augenblick hin, so sieht man . . . daneben verblaßt alle gemalte und gezeichnete Unzucht, an denen sich die Wollüstlinge delektieren, daneben sind die berühmten Versuchungen des heiligen Antonius Illustrationen für eine Hauspostille. Der hatte doch aus seinem Schicksal rausgekonnt, da war Verzicht, welcher Mensch kann von sich behaupten, daß er endgültig Verzicht leistet, es ist immer noch ein Vorbehalt dabei, er kann . . . mit einem Wort, er kann die Tür aufmachen. Aber hier? Bedenken Sie doch: ich war noch nicht dreißig. Hätten sie mich doch kastriert. Noch nicht dreißig und lebendig verscharrt. Alles wird zum Begattungsakt und erregt sexuelle Tobsucht, wenn sich zwei Wolken am Himmel einander nähern, wenn der Zimmermann in der Werkstatt die Balken ineinanderfügt, der Schlüssel, den der Wärter ins Loch steckt, der Grashalm, der aus einer Ritze sprießt, die eigene Zunge, wenn sie die Lippen feuchtet, das lateinische H auf einem Buchtitel, der Stöpsel in der Flasche. Dazu kommt, daß es so schauerlich vervielfacht ist in solchem Haus, man spürt, wie jeder auf demselben Rost geröstet wird, die Miasmen von den fünfhundert scheußlichen Bluträuschen wirken ärger auf den Geist als verworfenste Ausschweifung. Der Ekel, der finstere, wüste Ekel! Wie man sich nichts mehr wert ist. Wie alle Idee versandet und verkrustet. Wie das Herz ausdörrt zu einem schmierigen Schlauch. Ahnt einer das draußen? Unmöglich. Sonst könnte kein Kind, das ihr erzeugt, mehr fröhlich spielen, keine junge Braut könnte sich ins Hochzeitsbett legen, ohne vor Grauen und Abscheu zu erfrieren. Natürlich, auch diese Zustände haben ihre Klimax und ihren Abfall. Bei mir dauerte es etwa, lassen Sie mich nachrechnen . . . so an anderthalb Jahre. Ich weiß nicht, ob Sie annähernd erfassen, was das bedeutet, anderthalb Jahre, erstens überhaupt, und dann in solcher Zehn-Quadratmeter-Hölle. Jede Zeitangabe negiert eigentlich die Zeit. Nachher kommt so was wie ein eitriger Stumpfsinn. Hingeschlagensein, daß man einfach das Gefühl hat, man könnte sich auseinandernehmen wie eine Baukastenfigur, da der Kopf, eine Meile weit weg die Beine. Das dauert abermals ein paar Monate. Da fängt man dann wieder an zu schlafen, eine neue Art Schlaf, die man noch nicht gekannt. Man . . . ich
Weitere Kostenlose Bücher