Der Fall Maurizius
bevor das Chaos über ihn hereinbricht. Sein Zustand läßt sich kaum definieren: er will, daß Maurizius weiterredet, er wünscht es um jeden Preis, zugleich fürchtet er sich vor dem, was noch kommen wird, dermaßen, daß er sich am liebsten die Ohren zuhalten möchte; er erwägt die Möglichkeit, das Gespräch auf ein neutrales Thema hinzulenken (im Vergleich zu dem gegenwärtigen erscheint ihm sogar die Erörterung des Prozeßfalls, der Mord und alles, was damit zusammenhängt, als neutral), zugleich empfindet er die Feigheit und Schwäche dieses Versuchs, sich zu entziehen; er möchte fortgehen, im Augenblick, wo er den Beschluß faßt, erkennt er dessen Absurdität, ja Unausführbarkeit. Es schmiedet ihn ein unerklärliches Verlangen fest an den Stuhl, eine unerklärliche Niedergeschlagenheit macht ihn unfähig, nach einem Plan zu handeln, er betrachtet das Gesicht auf dem groben Kissen und kann nicht los, er will auf die Uhr schauen und bringt es nicht einmal fertig, die Hand in die Westentasche zu stecken. – »Es wurden die grausamsten Strafen über die Schuldigen verhängt«, murmelt Maurizius. – »Ihr Interesse an den Mithäftlingen wurde wohl durch das Ereignis verstärkt«, wirft Herr von Andergast schlaff hin. – Maurizius streift ihn mit einem fast paralytisch gebrochenen Blick. »Ja, und durch die Würmer im Brot, durch das stinkende Fleisch«, ergänzt er höhnisch. Herr von Andergast braust auf: »Das kommt nicht vor, darauf wird streng geachtet . . .« Maurizius zuckt die Achseln. »Gut, so nehmen Sie es in übertragenem Sinn«, antwortet er barsch, »Würmer sind im Brot.«
Er grübelt eine Zeitlang, dann verfällt er in das Stammeln, das sich bei den früheren Unterredungen öfters bemerkbar gemacht hat. Er kommt wieder auf die unmenschlichen Strafen zurück, die eiskalten Duschen, das Prügeln mit dem Lederriemen, die Zwangsjacke, Dunkelhaft hinter Gittern. Seine Pupillen erweitern sich, werden starr, tiefschwarz. Er rückt gequält den Kopf hin und her, erhebt ihn, läßt ihn auf das Strohpolster zurückfallen. Er nennt einen Namen: Klakusch, den Wärter Klakusch. Es scheint sich dabei um ein einschneidendes Erlebnis zu handeln. Doch vorher war noch anderes. (Es ist nicht leicht, sich in seinem verworrenen Vor- und Rückgreifen zurechtzufinden, er hat offenbar fortwährend Mühe, die Zeitabschnitte nicht durcheinanderzubringen, besonders nachdem die dauernde Einsamkeit in der Zelle aufgehört und sich der leere Raum in ihm wieder mit Gestalten gefüllt hat.) Durch die freiere Bewegung im Haus an zwei Tagen der Woche kommt es zu Begegnungen mit den Mithäftlingen. Er läßt sich auffallend tief mit ihnen ein, merkwürdigerweise mit dem Abschaum, den sogenannten Unverbesserlichen. Eine düstere Magie, die ihn gerade zu denen zieht, wie ein lechzender Durst ist es. Gibt es Blendung durch die Schwärze? Vielleicht bereitet es ihm eine geistige Wollust, daß in diesen qualmigen Abgründen alles verkohlt ist, was die Welt, der er einst angehört hat, bewegt und erhellt. Die hohen Errungenschaften, die sittlichen Ziele, Kunst und Philosophie: unkenntliche, verkohlte Strünke. Glatt abgeteilt ist die Menschheit in ein Oben und Unten. Unten herrscht die Diktatur der Gemeinheit, absolut. Er hat zwei- bis dreihundert Leute von einer unheimlichen Gleichförmigkeit der Entartung getroffen, Kerle, die am Rand der Gesellschaft auf der Lauer liegen wie Tigerkatzen im Dschungel. Das Schlechte wird nicht erdacht oder gewollt, es ist. Die Gesichter verheert von jedem erdenklichen Laster. Keine Stirnen. Die Kinne wie abgehackt. Lauter Typen für die Kriminalpathologie. Es ist die Frage, ob sie das besitzen, was man Seele nennt. Zur Übeltat von vornherein gestimmt, messen sie den Wert des Lebens an ihrer Gier, die Bestände der Welt an der Gefahr, die ihre Gewinnung oder Vernichtung bringt. Gesetz? ein Fetzen Papier. Pflicht gegen Staat und Gesellschaft? da lachen die Hühner. Religion? dito. Bürgerliche Existenz? eine Ausweichstelle vor der Polizei. Zuchthaus? die Selbstverständlichkeit. Liebe? Gibt's nicht genug Huren im Lande? Kummer? Sauf Schnaps, verdammter Idiot. Eltern, Weib und Kind? Grünhorngequassel, verdient einen Tritt in den Hintern. Auflösung. Die Finsternis. Das Ende der Dinge.
Sollte man meinen. Maurizius bringt all dies in einer Art vor, daß eine gegenbewegte Unterströmung spürbar wird, wie ein Verteidiger, der durch die Antithese die These präpariert. Er ist so voll Wissen und
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