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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Erfahrung, die mitten durch das Herz gegangen sind, daß seine Erschütterung sich wie in epileptischen Krämpfen entlädt. Aber Erschütterung hat ihn vermutlich gerettet. Das wollte er wohl auch mit dem »schüchternen Hähnchen« andeuten, dem wiedererstehenden »Selbst«. In der zweiten Hälfte 1915, um diese Zeit begann schon der Krieg seinen Menschenkehricht in die Zuchthäuser zu schwemmen, trat der Wärter Klakusch in sein Leben. Er kam von Kassel, war versetzt worden. Ein Mann mit gelbem Patriarchenbart, der das ganze Gesicht bedeckt und bis zum Gürtel reicht, eingedrückter Nase, kleinen, schwimmenden, rötlichen Augen. Er hatte immer die Mütze tief in die Stirn gezogen, sah mürrisch aus, lachte bisweilen boshaft oder schadenfroh vor sich hin, man konnte nicht erraten weshalb. Er versah den Dienst auf dem Gang, an dem Maurizius' Zelle lag. »Er war mir anfänglich unsympathisch«, gesteht Maurizius, »oft verharrte er fünf Minuten lang an der Tür, glotzte mich schweigend an, schnalzte mit der Zunge und ging wieder. Das Zungenschnalzen machte mich besonders nervös. Eines Tages trat er nah zu mir her und redete mich an: Sie sind doch ein gebildeter Mann, hab ich mir sagen lassen. So was wie ein Gelehrter. Also hören Sie mal, können Sie mir Auskunft geben: was ist das eigentlich, ein Verbrecher? Ich schaute ihn verdutzt an. Wie denn, was meinen Sie? frag ich. Nu ja, sagt er, ich meine nur, da sind so viele, wissen Sie, man kömmt so auf allerlei Ideen, wissen Sie. Was für Ideen? frag ich. Nu ja, eben Ideen, sagt er und wischt seine Triefaugen, da ist zum Beispiel Nummer dreihundertsechzehn. Ein Junge, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Wahrhaftig 'n rührender Junge. Hat seine Geliebte umgebracht, weil sie ihn scheußlich malträtiert hat. Wenn er raus kommt nach den acht Jahren, die sie ihm aufgebrummt haben, ist er hin. Anämie oder Schwindsucht, Sie wissen ja, unsere Krankheiten. Und auch sonst. Was soll er hier lernen bei uns? Haben Sie sich ihn mal angesehen? Komisch, daß so was 'n Verbrecher ist, sehr komisch. Schnalzte und ging. Auf meine Antwort war er gar nicht neugierig. Ich dachte mir: was ist nun das wieder für einer? Ich sollte nicht so bald damit fertig werden, mir den Kopf über ihn zu zerbrechen. Etwas an mir muß ihm von Anfang an gefallen haben. Zuerst hatt ich ihn im Verdacht, er wolle mich ausholen oder er leide an jeweiligen Anfällen von Schwatzsucht und spiele sich mir gegenüber auf. Aber Zweifel und Mißtrauen hatten keine lange Dauer. Es war merkwürdig mit dem Mann. Er gab sich so einfältig und schien so harmlos, und plötzlich, wenn er eine Weile bei einem war, hatte man das Gefühl, als wisse er über alle Dinge in der Welt Bescheid, man brauche ihn bloß zu fragen. Aber ihn interessierte nur das Zuchthaus, er redete über nichts anderes als über die Sträflinge. Er war vierundsechzig Jahre alt und stand fünfunddreißig Jahre im Gefängnisdienst. Er hatte Armeen von Verbrechern an sich vorüberziehen sehen und kannte sich im Justiz- und Strafvollzugsverfahren besser aus als viele hochgestellte Beamte. Jedoch darauf tat er sich nichts zugute, auf nichts tat er sich was zugute, auch auf die Pflichterfüllung und den schweren Dienst nicht, auf die Erfahrung nicht, und was an unergründlichen Erkenntnissen in ihm steckte, davon schien er nicht einmal etwas zu ahnen. Aber von ihm kann man keinen Begriff geben, und wenn man ein Buch über ihn schriebe. Möchte eigentlich wissen, warum Sie immer so schwermütig sind, redete er mich eines Tages an, ich sage immer zu den Jungens: Du hast deine Ordnung, dein gutes Bett, reichliche Nahrung, hast ein Dach überm Kopf, was willste denn mehr? Keine Sorgen, keine Geschäfte, brauchst dich nicht zu schinden, was willste eigentlich? Ich erwiderte ihm: Mann Gottes, der Trost kommt Ihnen nicht von Herzen. Er stellte sich stramm und sagte: Nein, wahrhaftig nicht, da haben Sie recht. Nun also, was soll's? frag ich. Und er: Ja, was soll's? Wenn man das wüßte. Aber sehen Sie mal, die Richter, die können eben auch nicht anders; der Fehler ist der: Wenn ein Richter urteilt, so urteilt er als Mensch über einen Menschen, und das darf nicht sein. So? frag ich erstaunt, finden Sie, daß das nicht sein darf? Es darf nicht sein, wiederholt er mit einem Ton, der mir unvergeßlich blieb, der Mensch darf nicht über den Menschen urteilen. Und wie ist's denn mit der Strafe? wandte ich ein. Strafe ist doch notwendig? war da, seit die Welt

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