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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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stünde alles leibhaftig vor mir da. Wenn er ein solches Ereignis schilderte, sah man alles bis auf die geringste Kleinigkeit vor sich. Und nicht nur das, es blieb einem eingegraben, es wurde zur Vision. Er erzählte mir zum Beispiel einmal, daß in einer Winternacht, vor vielen Jahren, ein Entlassener zu ihm kam und ihn mit aufgehobenen Händen anflehte, er möge ihn bei sich in der Kammer oder irgendwo im Zuchthaus verstecken, er wisse nicht wohin, habe keinen Pfennig Geld mehr, könne nicht für sich einstehen, es sei herzzerreißend gewesen, ein zerrütteter und verzweifelter Mensch. Er, Klakusch, habe die ganze Nacht mit ihm gesprochen, ihn auch einigermaßen auf gleich gebracht, habe ihm ein bißchen Geld gegeben und ihn schließlich mit dem Rat fortgeschickt: Tu nur wenigstens keinem Menschen was zuleide. Das erzählte er so, daß ich an dem Tag keinen Bissen Speise hinunterbrachte; es liegt mir noch immer im Ohr, wie er ihm zuredete, mit: Jungchen, Jungchen, und: friß dich nicht so tief hinein in den Jammer, und das: Tu nur keinem Menschen was zuleide. Einmal sprachen wir von dem Scheusal, das vier Jahre hier im Hause war, dem Frauenwürger Schneider; er erzählte mir, daß sie bei der Zuchthauskonferenz ganz ratlos gewesen seien, man wußte nicht, was mit ihm anfangen, so renitent sei er; ich sagte, so einer sei gar kein Mensch, es sei ein Fehler, ihn wie einen Menschen zu behandeln. Klakusch entwertete, das sehe allerdings so aus, wenn man dem eine doppelte Schmalzzulage zum Brot verspreche, falls er seinen Bruder umbringe, überlege er's wahrscheinlich keinen Augenblick. Na also, sag ich. Mag schon sein, erwidert er, aber so viel steht fest: im Mutterschoße war er noch nicht schlecht. Und da ich schwieg, fügte er hinzu: wenn er also im Mutterschoße noch nicht schlecht war, ist er genau ein solcher Mensch wie Sie und ich und der Herr Regierungspräsident; der Vorwurf, den ich gegen ihn erhebe, gibt mir doch noch nicht die Gerechtigkeit gegen ihn. Wie meinen Sie das, Klakusch, die Gerechtigkeit? fragt ich ihn. Er sagte: das Wort soll man eigentlich gar nicht in den Mund nehmen. Warum, Klakusch? Er sagte: es ist ein Wort wie ein Fisch, entschlüpft einem, wenn man's greift. Dann: Wenn man die Stimme hätte . . . wenn man die richtige Stimme hätte, was könnte man da erreichen, es fehlt an der Stimme. Ein paar Tage später hatte ich auf dem Gang einen Wortwechsel mit einem Sträfling, der mir höchst zuwider war, einem finstern, tückischen Gesellen, vor dem mir auch wegen seines Verbrechens ekelte, er hatte als Lehramtsgehilfe kleine Knaben zur Unzucht verleitet. Ich erzählte Klakusch von dem Zusammenstoß mit dem Menschen, er hörte mir ruhig zu, dann sagte er: Ich möcht Ihnen einen guten Rat geben, es kostet Sie nicht viel, wenn Sie ihn befolgen; probieren Sie's mal mit der Nettigkeit. Probieren Sie's mal, nett mit solchen zu sein, Sie glauben gar nicht, was es damit auf sich hat. So'n bißchen Nettigkeit, wissen Sie, das ist wie die Alraunwurzel, von der es heißt, daß sie eherne Schlösser sprengt. Achten Sie mal drauf, probieren Sie's mal. Ich, wie ein folgsamer Schüler, probierte es wirklich. Und ich sah, daß er recht hatte. Oft genügte ein freundliches Lächeln, und das verbissenste Gesicht verwandelte sich auf der Stelle. Ich machte die merkwürdigsten Erfahrungen. Diese Leute halten es gar nicht mehr für möglich, daß man ihnen so entgegenkommt, wie man sich draußen gegen einen beliebigen Bekannten benimmt, ich will gar nicht sagen artig oder liebenswürdig, daran liegt es gar nicht, das würde sie sogar stutzig machen, in vielen Fällen wenigstens, woran es liegt, das ist, daß man ihnen Achtung bezeigt, eine ganz gewöhnliche Rücksicht, das haben sie vergessen, wenn sie's wieder spüren, schauen sie einen mit erstaunten Augen an und wissen sich im ersten Moment einfach nicht zu helfen; bei einem ist es mir mal passiert, daß er sich umdrehte und losheulte wie ein Bub. Sie werden das vielleicht für Sentimentalität erklären, dann wär's allerdings besser, ich spräche nicht davon, dann hätt ich klüger getan, von Anfang an stumm zu bleiben. Mir diente es dazu, daß ich mich täglich enger an Klakusch anschloß, wenn er einen Tag dienstfrei hatte, war mir weh und bang nach ihm, auch er gewann mich immer lieber, obschon er's nur selten merken ließ, aber einmal sagte er, er habe nie einen Sohn gehabt, und wenn er sich einen denke, wünsche er sich ihn so wie mich. Macht Ihnen denn

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