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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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steht. Er beugt sich zu mir herunter und raunt: Dann muß man die Welt austilgen und Menschen machen, die anders denken. Das ist uns so eingebläut von Kindesbeinen, aber es hat mit dem wahrhaftigen Menschen nichts zu schaffen. Es ist Lüge, da haben Sie's. Lüge. Wer straft, der lügt sich seine eigene Sünde weg. Da haben Sie's. Aber sagen Sie's nicht weiter, sonst jagt mich der Herr Vorsteher zum Teufel. Nun, das war mir sehr sonderbar. Bald wartete ich jeden Tag mit Ungeduld auf die Stunde, wo er kam. Er trug mir alles zu, was sich im Haus ereignete. Einmal war er ungewöhnlich aufgeregt, was sich durch vermehrtes Schnalzen anzeigte. Da haben sie jetzt zwei Bürschlein eingebracht, erzählte er, die haben sie wegen Straßenraub zu vier und fünf Jahren verdonnert. Walzbrüder. Hatten zwei Tage lang nichts gefressen, zogen im Regen über die Chaussee, sehen bei einem Dorf einen Besoffenen im Graben liegen und nehmen ihm die Barschaft, drei Mark fünfundzwanzig Pfennige. Neun Jahre Zuchthaus für drei Mark fünfundzwanzig! Er packte mich an der Schulter und schüttelte mich, als hätte ich das Urteil gesprochen, als könnte ich's ändern. Ich sagte: Sie sehen, in was für einer Welt wir hausen, Klakusch. Er schaute mich mit verzogener Stirn an und sagte: Da will ich Sie was fragen, nämlich, was die Tat und den Menschen betrifft: ist denn eine Tat der Mensch? Nein, gab ich ihm zur Antwort, eine Tat ist nicht der Mensch, und darin liegt der ganze Irrtum. Er ließ von mir ab, und während er hinausging, murmelte er vor sich hin: also nicht, also nicht, die Tat ist nicht der Mensch. Auf einmal kehrte er wieder um und sagte: Da hab ich gestern einen Diskurs mit Nummer zweihunderteinundneunzig gehabt. Der sitzt und sitzt und sinniert und sinniert. Der richtige Zuchthausknall. Hat Blutschande begangen. Sein Weib hat sich immerzu mit andern Männern herumgetrieben, er hat sie gewähren lassen, hat nicht aufzumucken gewagt, hat sie zu gern gehabt, endlich hat ihm das Fleisch keine Ruhe mehr gelassen, war 'ne hübsche Tochter im Haus, leichtfertiges Ding, der Mutter nachgeraten, die scheint ihn verführt zu haben, die Frau kommt dahinter, um ihn los zu werden, zeigt sie ihn an. Wie's eben geht bei solchen Leuten. Ich frag ihn: Bist du's, der's getan hat? Er versteht nicht. Du, sag ich und stoß ihn vor die Brust. Ja, ich, sagt er bang. Na, dann bist du auch schuldig, sag ich. Und er: Es ist aber kein Richter dafür da. Wieso nicht? frag ich. Ich erkenn den Richter nicht an, sagt er. So ein dummes Luder. Vielleicht nicht so dumm, Klakusch, wendete ich ein. Möglich, gab er zu, möglich, und wissen Sie noch was? Der ist gut geworden dadurch, daß er schlecht geworden ist, das ist nur schon oft untergekommen, es ist eben kein Fertigwerden mit diesen Menschen, hundert Jahre kann einer studieren und wird nicht fertig. Manche kommen herein, und statt ihr Verbrechen zu bereuen, sagen sie: ich hab eben kein Glück dabei gehabt. Als wär's 'n Lotteriespiel, in das alle ihren Einsatz zahlen, als ob's nur Diebe, Mörder und Betrüger auf der Welt gäbe, und wer nicht erwischt wird, macht den Treffer. Da ist doch kein moralisches Gefühl, nicht wahr. Wo steckt überhaupt das moralische Gefühl, wollen Sie mir das verraten? Er sah mich listig an, ich könnt es ihm aber nicht verraten. Da sagte er auf einmal feierlich: dafür kann ich Ihnen was verraten: ich weiß jetzt, was 'n Verbrecher ist. Nämlich? frag ich gespannt. Nämlich einer, der sich selber zugrunde richtet; das ist ein Verbrecher; der Mensch, der sich selber zugrunde richtet, der ist ein Verbrecher. Das ist wahr, Klakusch, sagte ich, das ist furchtbar wahr. Er nickte mir freundlich zu und tätschelte mir den Kopf. Ein paar Tage darauf kam er mit einer Nachricht, die er mir schon verkündete, ehe er die Tür geschlossen hatte: Nummer vierhundertzwölf habe ein Geständnis abgelegt. In der ganzen Anstalt sei es bereits bekannt. Dreieinhalb Jahre habe er verstockt geschwiegen, keine Silbe sei aus ihm herauszubringen gewesen, nur herumgegangen, herumgegangen, bösartig mit den Zähnen gefletscht, die Finger an den Wänden wund gekrallt, gegen Gott und Menschen gerast, heut früh um fünf habe er plötzlich nach dem Pastor verlangt, und als der gekommen, habe er ihm alles ins Gesicht geschrien, seine ganze Schuld ins Gesicht geschrien, mit schaumigem Maul, dann sei er hingestürzt in einen Winkel der Zelle und habe nicht mehr gejappt, und so liege er jetzt noch. Mir war, als

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