Der Fall Maurizius
Dezembernachmittag, als wir dieses besprachen, seit dem Morgen verfinsterte der Schneefall die Zelle, und bevor er ging, sagte Klakusch: Es macht mir keinen Spaß mehr, ich hab meine Tage vollgezählt auf dem Buckel, ich weiß zuviel von allem, es geht nichts mehr hinein in den Kopf und in das Herz. Als er gegen Abend noch einmal kam, um für die Nacht den Kübel auszuleeren, das nahm er mir immer ab, nach der Hausordnung hätt ich's selber besorgen müssen, als er da vor mir stand, rafft ich meinen Mut zusammen und fragte ihn: Sagen Sie mal, Klakusch, glauben Sie, daß unschuldig Verurteilte in dem Haus sind? Er schien auf die Frage nicht vorbereitet und antwortete zögernd: Es könnte wohl sein. Ich fragte weiter: Mit wieviel unschuldig Verurteilten haben Sie während Ihrer Amtslaufbahn zu tun gehabt, ich spreche von notorisch Unschuldigen –? Er dachte eine Zeitlang nach, dann zählte er, indem er leise die Namen murmelte, an den Fingern ab: Elf. Und haben Sie gleich, wie Sie sie kennengelernt haben, an die Unschuld der Betreffenden geglaubt? Das nicht, versetzte er, das nicht, wenn man dran glaubte und dann zusehen muß, wie sie sich die Eingeweide abkränken, wenn man's für gewiß wüßte, sag ich, dann . . . Ich bedrängte ihn: Dann? was – dann, Klakusch? Na ja, sagte er, dann könnt man, genau genommen, nicht weiterleben. Es war schon dunkel in meiner Zelle, seine Gestalt könnt ich grade noch unterscheiden, ich riskierte nun die Herzfrage, auf die ich im Grund hinauswollte. Nun, wie ist's mit mir, Klakusch, fragt ich ihn, halten Sie mich für schuldig oder für unschuldig? Und er: Muß ich darauf antworten? Ich möchte gern, daß Sie offen, und ehrlich darauf antworten, sag ich. Er besann sich wieder, dann sagte er: 's ist gut, morgen früh sollen Sie meine Antwort haben. Und früh am andern Tag bekam ich die Antwort. Er hatte sich am Fensterkreuz in seiner Stube erhängt.«
Maurizius dreht das Gesicht zur Wand und liegt still da. Es vergeht eine Viertelstunde, während welcher lautloses Schweigen in der Zelle herrscht. Nicht abzusehen, wie lang das unheimliche Schweigen noch gedauert hätte, wenn nicht an der Panzertür geklopft worden wäre. Es ist der Anstaltsarzt, der sich auf seinem Rundgang befindet. Von der Anwesenheit der hohen, behördlichen Person in Kenntnis gesetzt, bittet er um die Erlaubnis, den Patienten besichtigen zu dürfen, er werde nicht lange stören. Ein fetter Herr tritt ein, goldene Brille auf kleinem Knollen-Näschen, begrüßt den Oberstaatsanwalt reserveoffiziersmäßig, langt nach dem Handgelenk des Sträflings, um den Puls zu fühlen, schnarrt etwas Herablassendes und Zufriedenes, verbeugt sich wieder und geht.
Herr von Andergast hat sich erhoben. Es ist ihm zumute, als sei er neunzehn Jahre hier auf dem Stuhl gesessen. Er ist in dieser Zeit uralt, müde und unbrauchbar geworden. Sein scheuer Blick irrt zu dem Sträfling hinüber, der mit geschlossenen Augen steif daliegt, beide Hände zu Fäusten geballt auf der Brust. Man müßte etwas sagen, denkt Herr von Andergast. Nein, erwidert eine andere Stimme in ihm kategorisch, man enthalte sich jedes Wortes. Er greift nach dem Hut, den er vor neunzehn Jahren auf den Tisch gelegt hat, daneben die braunen Lederhandschuhe. Er bemüht sich, geräuschlos zu sein. Herr von Andergast, Baron, Oberstaatsanwalt, schleicht sich, Hut und braune Lederhandschuhe in der Rechten, wie ein Dieb aus der Zelle des Sträflings 357 . . .
Das Auto wartet. »Fahren Sie rasch«, ruft er dem Chauffeur zu, fällt in die Ecke des Wagens und stiert mit aufgerissenen, veilchenblauen Augen in den Regen hinaus. Er sieht nicht, er schaut nicht, er denkt nicht, er spürt nicht.
Ins Amt zurückgekehrt, drei Uhr nachmittag, sendet er an den Justizminister eine ausführliche, zweihundert Worte enthaltende Depesche, worin er ihm die sofortige Begnadigung des Strafgefangenen Maurizius dringend nahelegt.
Dritter Teil
Die Unwiderruflichkeit des Todes
Vierzehntes Kapitel
1
Als Etzel aus dem Auto stieg, schwindelte ihm. Nimm dich zusammen, Mensch, sagte er zu sich selber. Das Licht der Bogenlampen troff wie flüssiges Wachs über sein Gesicht. Vier Treppen zu je dreiundzwanzig Stufen macht zweiundneunzig Stufen. Verdammte Höhe. Mülleimer, Bierflaschen, Töpfe mit Kalk zum Tünchen. Auf der obersten Stiege lila Dämmerung. Die Wohnungstür offen. Im Flur stand Melitta, um die Schultern ein absurdes grünes Tuch, das sie fest an sich zog, daß sie wie eine Stange
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