Der Fall Maurizius
Olle, Speckige?« – »Ja, der. Wenn er nicht käme, das wär bös, müssen Sie wissen. Ich hab meine Gründe, zu glauben, daß er kommt, wenn nicht heut, dann morgen. Er weiß, wo ich wohne. Er hat sich's mal aufnotiert sogar. Bei Tag hat er keine Zeit, also wird er am Abend kommen. Lassen Sie ihn nur gleich herein, wenn er kommt. Sagen Sie's auch Ihrer Mutter, daß sie ihn gleich zu mir hereinläßt. Sagen Sie's im ganzen Haus, daß sie ihm alle sagen, ich bin da . . . Verstehn Sie? Es ist furchtbar wichtig. So wichtig wie die Untergrundbahn, verstehen Sie . . .?« – »Mensch!« rief Melitta erschrocken, »entweder haben Sie 'nen Spitz oder . . .« – »Es ist mir nur so . . .« stammelte Etzel, »ein bißchen dösig, wissen Sie, warum knallt denn heut das Gas immerfort?«
Melitta machte nicht mehr viel Worte, sie war ihm beim Auskleiden behilflich, und als er im Bett lag, deckte sie ihn sorgfältig zu. »Nicht den Doktor«, murmelte er flehend, bevor er in den Fieberschlaf dämmerte, »bitte, nicht den Doktor.« – »Keine Bange«, beschwichtigte ihn das Mädchen, »das treffen wir auch. Unsereiner hat's nicht so mit 'n Doktor.« Da steckt doch was dahinter, daß er solche Angst vor dem Doktor hat, sagte sie sich, aber weil er ihr einen so großen Dienst geleistet hatte, beschloß sie, ihn so gut es ging selber zu pflegen. Sie hatte eine kleine Hausapotheke, in der sich Antipyrin vorfand, löste zwei Tabletten in Wasser auf und flößte es ihm löffelweise ein. Hübscher Junge, dachte sie, während sie sein glühendes Gesicht betrachtete.
2
Er verbrachte die Nacht in einem Zustand zwischen Bewußtlosigkeit und rasender Gedankenjagd. Melitta hatte die Tür zu ihrer Stube offen gelassen, bisweilen kam sie mit einer Kerze herein und schaute nach ihm. Er konnte das Licht nicht ertragen und wimmerte ein wenig, mit den Fingern vor den Augen. Das mechanische Klavier in der Tanzschule überm Hof klang, als ob eine Schwadron Gäule über ein mit Eisenblech beschlagenes Feld donnerte. Es nahm kein Ende, kein Ende . . . Die junge Frau vor Ghisels Tür schlug ihm mit einer Autohupe ins Gesicht. Als er näher hinsah, war es keine Autohupe, sondern ein Saxophon, und der junge Mann mit der Hornbrille sagte: eine unpassende Beschäftigung für einen Zentauren, mein Fräulein. Die Großmutter schwebte wie eine Trapezkünstlerin am Seil eines Luftballons, Frau Schneevogt drohte ihr mit der Faust und rief erbittert: wenn ich so ein Einkommen hätte, könnt ich das auch. Andergast, nennen Sie mir das Todesjahr des letzten Hohenstaufen, falsch, setzen Sie sich. Eine schwarzvermummte Frauengestalt schritt an Trismegistos Arm eine grauenhaft verödete Straße entlang, durch eine Explosion flogen die Pflastersteine in die Luft, der Vater fing sie mit der Hand auf, steckte sie als Corpora delicti in seine Tasche und sagte zu der vermummten Figur: Sie sind Anna Jahn, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes. Dann war er in einem offenen Güterwagen und fuhr oberhalb einer Stadt, die Schienen liefen wie Drahtseile in der Luft, der Güterwagen war leer bis auf eine schmale Holzkiste, die aber sonderbarerweise durchsichtig war, und in der Kiste lagen wie Äpfel lauter Menschenköpfe; er unterschied den Kopf von Paalzows Jungen und den des Negers Joshua Cooper. Da kam Camill Raff und schrie ihm zu: fliehen wir, packte ihn beim Handgelenk, und sie rannten keuchend auf ein Tor zu, das jede Sekunde zugeschlagen werden konnte, dann waren sie verloren . . .
Melitta mußte am Morgen ins Geschäft und betraute ihre Mutter mit der Beaufsichtigung des kranken Mieters, doch diese hatte auch ihre Gänge zu besorgen, und so war Etzel den größten Teil des Vormittags allein in der Wohnung. Das Fieber hatte sich gelegt, er fühlte sich zerschlagen und lag mit halbgeschlossenen Augen reglos da. Wie alle Kinder und Halbkinder, wenn sie krank sind, kokettierte er mit dem Gedanken an den Tod und bedauerte sich von Herzen wegen seiner Hilflosigkeit und Verlassenheit. Nur die eine Überlegung raubte dem Sterben etwas von seinem melancholisch süßen Reiz, daß wahrscheinlich niemand es erfahren würde, wenn er hier in einer scheußlichen Zinskaserne in Berlin N einen beklagenswerten Tod fand, einen pseudonymen Tod. Die Großmutter nicht, Robert Thielemann nicht, die gute alte Rie nicht und er nicht, Trismegistos. Das war allerdings fatal, Trismegistos mußte es unbedingt zu wissen kriegen. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit, ihm beizukommen.
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