Der Fall Maurizius
aussah. »War jemand da?« fragte Etzel unruhig. Das Mädchen erwiderte grob: »Wer soll denn dagewesen sein? wer kommt denn schon zu Ihnen? war denn schon mal einer bei Ihnen?« Etzel versetzte: »Das stimmt. Es war noch keiner da, aber 's ist möglich, daß einer kommt.« – »Wird schon der Rechte sein«, gab das anmutvolle Wesen zurück, »Sie scheinen mir überhaupt noble Bekanntschaften zu haben.« In seinem Zimmer ließ sich Etzel auf den Stuhl fallen, schob die Hände in die Hosentaschen, drückte den Nacken gegen die Lehne. Er wünschte, daß die Gasflamme schon brennte, er war zu müde, sie anzuzünden. Der Wunsch wurde schneller erfüllt, als er zu hoffen gewagt. Es erschien Frau Schneevogt und äußerte Verwunderung, daß er im Dunkel saß. Er sagte kaltblütig, er liebe die Dunkelheit. Sie erklärte ihn für einen überspannten, jungen Herrn und machte Licht. Sie fragte, ob sie ihm was zu essen bringen solle. Da er das Mittagessen nicht angerührt, wolle sie es aufwärmen. (Dabei verwandelte sich ihr Gesicht in ein Plakat strengster Rechtlichkeit.) Etzel dankte. Er habe keinen Hunger. Frau Schneevogt konstatierte bedenklich, daß ihr sein Aussehen nicht gefalle. »Bißchen Grippe«, sagte er leger und kreuzte männlich die ausgestreckten Beine. Sie empfahl ihm, sich ins Bett zu legen, und versprach, heißes Zuckerwasser zu bringen, unfehlbares Mittel. Etzel dachte ingrimmig: wenn du nur draußen wärst, gräßliches Weib. Jene aber war gesprächsüchtig, zumindest anlehnungsbedürftig. Sie erkundigte sich, ob er den Streit mitangehört, den sie nachmittags mit der Tochter gehabt. Später habe es noch mal begonnen, und Schneevogt selbst habe sich entsetzlich aufgeregt. Etzel räumte ein, er habe einen gewissen Lärm gehört und auf familiäre Meinungsverschiedenheiten geschlossen. »Wenn's nur das wäre«, seufzte Frau Schneevogt. Da sie das dringende Verlangen äußerte, ihn in den Konflikt einzuweihen, verzichtete er auf Widerstand. Die hageren, irren Hände schienen dicht vor seinen Augen zu gestikulieren.
Die Sache war die. In dem Geschäft, in welchem Melitta bedienstet war (großes Damenmodenhaus), war ein kürzlich Angestellter durch einen Fehler in der Aufzugsmaschinerie zum Krüppel geworden. Er hatte nur Aushilfe geleistet, war eigentlich ein herabgekommener Operettensänger und bei der Arbeiterversicherung nicht eingeschrieben, was nicht beachtet worden war. Er beanspruchte Entschädigung, Ersatz der Heilungskosten, die Firma leugnet ihre Haftpflicht, behauptet, der Unfall sei selbstverschuldet, und führt eine Reihe anderer Angestellter als Zeugen auf. Die Leute sind bereit auszusagen, was man von ihnen begehrt, sie zittern ums Brot. Nur Melitta weigert sich. Und gerade sie sollte die Hauptzeugin sein, sie war zur Zeit des Unglücks im Verpackungsraum, dort ist es passiert. Sie weigert sich nicht bloß, für die Firma einzutreten, sie schlägt sich sogar mit Entschiedenheit auf die Gegenseite, will beschwören, daß der Aufzug schon zwei Tage vorher nicht glatt funktioniert hat, daß der Mann weder achtlos noch, wie einige bemerkt haben wollen, angeheitert war, daß er einfach hinaufgerissen worden ist und nach einer halben Sekunde mit zerfleischten Armen und Schultern im Schacht hing. Die Chefs sind außer sich über die Illoyalität des Mädchens, jammert Frau Schneevogt. Sie und Herr Schneevogt sind natürlich ebenfalls außer sich. Man hat Melitta angedeutet, daß die Abteilung, bei der sie arbeitet, demnächst aufgelöst werden soll, daß man aber erwogen habe, sie als Direktrice über eine neu zu errichtende zu setzen. Sie verstehen? sagt Frau Schneevogt. Gewiß, Etzel versteht, trotz seines betäubten Kopfes, er versteht: niederträchtige Verquickung von Drohung und Lockung. Die dumme Gans, jammert Frau Schneevogt händeringend, sieht ihren Vorteil nicht ein! Bei den Zeiten, wo einer monatelang auf der Gasse liegen kann, bis er eine halbwegs anständige Verdienstmöglichkeit findet. So weit war Mutter Schneevogt in ihrer bewegten Darstellung gelangt, als die Tür aufflog und Melitta hereinschoß. Wie eine bissige Katze fuhr sie auf die Mutter los: »Und wenn du dich auf den Kopf stellst und bis Mitternacht mit den Beinen strampelst, ich tu's nicht und tu's nicht.« Dann, zu Etzel gewendet, mit dem glasharten Diskant: Da halten sie einem ein Zuckerbrot vor die Nase, damit man was Hundsgemeines macht und einen armen Menschen, für den das Leben ohnehin nur noch ein wertloser Fetzen ist,
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