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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Mohl, Edgar, unbekannter Geburt, unbekannter Herkunft, die Leiche ist zu besichtigen im Schauhaus Plötzensee. Nach einer Weile wird die Identität jedoch einwandfrei festgestellt, und beklommene Leidtragende, sämtlich von Gewissensbissen geplagt, wallfahrten zu seinem Grabe. Hic jacet Etzel Andergast alias Mohl, ein Opfer ehrenhafter Bestrebungen, betrauert von den Gleichgesinnten. Er wußte natürlich nicht, daß diese wehmütige Selbstinszenierung schon das wieder triumphierende Leben war. Die Geräusche des Hauses oben und unten, Stimmen und Schritte wie aus verschlungenen Schächten, das Klirren der Fensterscheiben, Gebell von Hunden, Geplärr von Ausrufern, Schmettern eines Aeroplans, es war schon wieder die Mitte der Dinge, der nervige Leib der Welt.
    Etzel hob den Kopf und horchte: die Eingangsglocke. Nach einer Pause zum zweitenmal. Nach einer Pause andauernder zum drittenmal. Sein Herz pochte. Ist es denkbar, . . . um die Mittagsstunde? Es ist denkbar. Er gibt nur bis elf Uhr Unterricht, um halb eins geht er gewöhnlich erst zu Frau Bobike. Etzel spürt bis in die Bauchhöhle hinein: Er ist es. Er lächelt. Eingespanntes, bestürztes und diebisches Lächeln. Alle Vorsätze sind darin versammelt, alle Erwartungen, alle Ängste. Soll er aufstehn und die Tür öffnen? Er hat keinen Schlafanzug. Da hätte Mutter Schneevogt sonderbare Augen gemacht, wenn er einen Pyjama unter seiner Wäsche gehabt hätte. Bis er die Hose angezogen hat, ist der draußen vielleicht schon weg. Er vernimmt Stimmen. Gott sei Dank, Frau Schneevogt ist gekommen. Und seine Stimme. Kein Zweifel. Die Baßorgel. Der Brustton. Das Trompeten-O.
    Warschauer-Waremme trat ein. Hinter ihm voll aufgeregter Neugier Frau Schneevogt. Mit beschwörend erhobenen Armen nähert sich Warschauer dem Bett. »Aber Mohl! armer kleiner Mohl, wirklich krank? ernstlich krank? Ich dachte mir schon, weshalb erscheint Mohl nicht? was ficht ihn an? er wird doch seinem alten Freund nicht tatsächlich böse sein, eine momentane Nervosität nicht krumm genommen haben . . . wo fehlts? Kopf, Magen? Hals? Lungen? Kann ich etwas für Sie tun? Fieber? Poor fellow. Meine gute Frau, das ist ein vorzüglicher junger Mann, ich hoffe, Sie haben ein Augenmerk auf ihn, ich hoffe, er wird hier nicht vernachlässigt . . .« Hemmungsloser Wortschwall. Er stieg in der Stube auf und ab und mimte Bestürzung, Mitleid, Hilfsbeflissenheit. Frau Schneevogt, der er sofort maßlos imponierte, gab beleidigt zu verstehen, daß von ihrer und ihrer Tochter Seite alles für den Patienten Erforderliche geschehe. »Wackere Dame«, sagte Warschauer, fand jedoch die Luft im Raum übeldunstig und riß das Fenster auf. Sodann trat er wieder zu Etzel, legte ihm die Hand auf die Stirn, auf das Herz, brummelte besorgt, machte tz, tz, tz, und die schwarzen Brillengläser unter dem Rand seines Schlapphuts (den er nicht vom Kopf genommen) sahen aus wie die dunklen Öffnungen zweier Röhren. »Kochen Sie ihm eine Bouillon, meine gute Dame«, wandte er sich an die atemlos zuhörende und zuschauende Frau Schneevogt, »wenn möglich ein Hühnersüppchen, und lassen Sie aus der Apotheke ein einfaches Abführmittel besorgen, Kalomel oder Rizinus. Das soll er einnehmen.« – »Wird gemacht, Herr Doktor«, sagte Frau Schneevogt ehrfürchtig, denn sie war der Meinung, er sei Arzt. Etzel mußte lachen. Auch Warschauer grinste wohlwollend. »Na sieh da, sieh da«, freute er sich, »wir sind ja ganz munter. Die Schelmennatur bricht durch. Vivos voco. Mein lieber junger Mohl, ich verabschiede mich für jetzt, ennuyante Pflichten rufen mich, am Abend komm ich wieder herauf, Ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten. Good bye, my dear. Pa!« Er winkte zärtlich mit der Rechten und wandte sich zum Gehen. Die grauen Rockschöße flatterten grotesk hinter ihm her. Frau Schneevogt begleitete ihn mit servilem Lächeln in den Flur.
    Etzel blickte zornig gegen die Tür, durch die er verschwunden war. Das widerliche Getue, dachte er; was er bloß damit bezweckt, möcht ich wissen, ob er mich wie gewöhnlich ablenken und einlullen will oder ob er einen besonderen Coup im Sinne hat? Also heut abend . . . Jetzt heißt's aut – aut, ich wollt, es wär schon Mitternacht, ich wollt, es wär schon morgen. Er legte sich einen Plan zurecht. Aber was sollte ein Plan, wenn man mit einem solchen Gegner zu tun hatte. Eh man ihm ein Bein stellte, zertrat er einem die Zehen. Der aussichtsreichste Weg war der: sich kränker zu geben, als man

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