Der Fall Maurizius
Thema, das eben anfing, »brennend« zu werden; die jungen Leute spürten, daß es da ans Lebensmark des Volkes ging. Etzel, nur von der einen, einzigen Sache erfüllt und einer locker hängenden Glocke ähnlich, die schon auf den Anstoß eines Windhauchs mit gedämpftem Erzklang antwortet, warf wie von ungefähr den Namen Maurizius hin, zaghaft, als wolle er sondieren, ob der Professor den Fall kenne und wenn, ob er geneigt sei, sich darüber zu äußern. Der Professor schaute überrascht empor. »Sonderbar, daß Sie diese Causa erwähnen, Andergast«, sagte er, »ich habe neulich erst in einer Schrift daraufhingedeutet.« (Aha, der auch, dachte Etzel.) »Sie ist mir von jeher als symptomatisch erschienen. Ja, eine außergewöhnliche Causa, in mehr als einem Sinn. Haben Sie sich denn damit befaßt oder Spezielles darüber gehört?« Etzel blinzelte, ruckte verlegen auf seinem Stuhl und sagte etwas Nichtiges, während ihn die Kameraden neugierig ansahen. »Nun, zu wundern braucht ich mich über die Zitierung nicht«, fuhr der Professor freundlich fort, »es gibt ja einen recht natürlichen Zusammenhang, da es doch Ihr Herr Vater war, der diese Sache damals führte. Man kann sagen, er war der eigentliche Spiritus rector. Es gehörte eben seine Kraft, sein Mut, seine Superiorität dazu, um die Schwierigkeiten zu besiegen, die sich ihm entgegenstellten. Ich habe ihn sehr bewundert in diesem Kampf. Denn es war wohl ein deutsches Hic Rhodus, hic salta, Deutschland stand sozusagen vor einem sittlichen Entweder-Oder, es war einer von den geschichtlichen Momenten, wo es wählen konnte zwischen Hinauf und Hinab. Auf der einen Seite Frivolität, Genußsucht, Leichtfertigkeit, Unverantwortlichkeit, auf der andern Gewissen, Zucht und Pflicht. Noch einmal bekam das Bessere die Oberhand. Ich entsinne mich noch der abschließenden Rede Ihres Vaters. Es war eine erstaunliche Leistung, man hätte sie an allen Mauern und Litfaßsäulen anschlagen sollen. Ich weiß, es waren starke unterirdische Strömungen zugunsten des Angeklagten, noch heute ist die Bewegung nicht völlig erstickt, wie es ja auch noch Schwärmer gibt, die den armen Caspar Hauser für einen Märtyrer halten; aber was will das besagen, wir Alten, die wir diese Zeit miterlebt und unsre Augen offengehalten haben, hegen keinen Zweifel an der Schuld des unglücklichen Menschen. Das freilich war er, weniger ein Verbrecher als ein Schwächling, haltlos und angefault bis in den Grund der Seele.«
Etzel hielt den Kopf gesenkt. Ein leises Lächeln, störrisch und überlegen, umzuckte seine Lippen. Das mit dem Caspar Hauser hätte er sich sparen können, dachte er, damit nützt er seiner Sache nicht, da wissen wir besser Bescheid (er hatte sich mit der Geschichte des Findlings beschäftigt und viel darüber gelesen), nur was er über den Vater gesagt hat, das ist fein, das ist famos. Er hob langsam die Lider und schaute mit seinen kurzsichtigen Augen der Reihe nach in die Gesichter. Es waren schöne und häßliche Gesichter, das häßlichste, wie immer, das des Professors, wenn auch das ausdrucksvollste. So lästig Etzel seine Kurzsichtigkeit im Tagesablauf oft empfand, beim Sport, beim Unterricht zum Beispiel, so angenehm war sie ihm bisweilen im Umgang mit Menschen, weil er ihre Züge, sogar ihr allgemeines Verhalten in einen verschönernden Dämmerschimmer getaucht sah.
3
Die Frage, die an den alten Maurizius zu stellen war, lautete: Wo ist Waremme? Sie trafen sich vor einem kleinen Kaffeehaus beim Guiolettplatz, es regnete seit Stunden, sie gingen die paar Straßen bis zur Christuskirche und suchten Zuflucht unter dem Portal. Es war das zweite Mal, daß sie sich auf diese Art in der Stadt sahen, verabredetermaßen natürlich; aber beim erstenmal war Etzel nicht dazu gekommen, die Frage zu stellen, der alte Mann hatte ihn durch eine Erzählung in Atem gehalten, und nachher hatte Etzel alles andere vergessen, war von dem Alten weggeschlichen und so geistesabwesend vorwärts gestolpert, daß er in ein falsches Haus am Kettenhofweg gegangen und, als er es bemerkt, beim Umkehren die Steinstufen am Tor hinuntergefallen war, ohne sich jedoch Schaden zu tun. Die Erzählung bestand in dem Bericht, wie Peter Paul Maurizius mit fünf seiner Bekannten, lauter alten Männern, die Stunden vor der Verkündigung des Todesurteils verbracht hatte. Gott mag wissen, was ihn veranlaßt hatte, die Episode aus der Vergangenheit heraufzubeschwören. Ganz von selbst fing er davon an, als wär's
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