Der Fall Maurizius
einen Bart getragen haben«, fügte er sarkastisch hinzu; »jawohl, der eine läßt sich rasieren, der andere sorgt für Haarwuchs, das ist der Lauf der Welt, junger Herr Andergast.« Er kicherte heiser und spuckte auf die Steinfliesen. Ein älterer Herr mit einem Schlapphut stellte sich vor das ungleiche Paar, bastelte an seinem Regenschirm und schimpfte leise über das Wetter. Als er wieder gegangen war, fragte Etzel, was für eine Sorte Mensch Waremme gewesen sei. »Gewesen?« fuhr Maurizius auf, »gewesen? Das hoff ich zu unserm Herrgott im Himmel, daß nichts an ihm gewesen ist, kein Atemzug an ihm gewesen ist. Gewesen! Da säßen wir saftig im Dreck. Gewesen!« Zornig wetterte es in seinen blutunterlaufenen Augen. »Ich meine, weil es so lang her ist«, entschuldigte sich Etzel höflich. »Schwer, von dem was zu sagen«, maulte der Alte und rieb die Kinnlade hin und her wie ein Pferd, dessen Lefzen von der Trense gescheuert werden. »Weiß der Teufel, wie man ihn beschreiben soll. Nicht zu glauben, wenn man denkt, was er damals war und was er heut ist . . .« Er hielt inne. Er hatte offenbar mehr gesagt, als er sagen wollte, und suchte, bestürzt blinzelnd, in seiner Tasche nach Zündhölzern. Etzel blickte neugierig empor. Da war er einer Entdeckung auf der Spur. Seine Miene drängte: weiter, weiter!, und unwillkürlich packte er den Alten beim Rockärmel. Maurizius hatte die Zündhölzer endlich gefunden, schob sie aber unbenutzt in die Tasche zurück. Etwas hilflos begann er den Waremme von »damals« zu schildern. Etzel spürte sogleich die Unvollkommenheit des Bildes. Die Person ging ohne Zweifel über den Horizont des Alten. Er wußte eine Menge Tatsachen, hatte jedoch keine Ahnung von ihrer Bedeutung. Wo sich, selbst in diesem vulgären Bericht, interessante geistige Zustände spiegelten, fehlte jeder Zusammenhang, und die Vorgänge wurden unwahrscheinlich. Zwei Jahre vor dem Unglück (das »Unglück« war die Nabe der Ereignisse) sei Waremme dort aufgetaucht und habe gleich die ganze Universität in den Sack gesteckt. Was er war? Ei nun, Philosoph oder dergleichen. Schriftsteller, Privatgelehrter. Amt nahm er keines an, vielleicht bot man ihm auch keines, er tat sich auf seine Unabhängigkeit was zugute. Manchmal hielt er freie Vorlesungen. Von weit her kamen die Leute, um ihn zu hören. Die Professoren waren außer sich, sprachen von ihm wie von einem Wundertier. Wenn er in eine Gesellschaft kam, drängten sich Männer und Weiber um ihn herum, waren komplett verhext von seinen Reden. Waremme hat das gesagt, Waremme hat jenes gesagt, danach gab's keinen Widerspruch mehr. Besonders ein paar Geheimräte und einige von den rheinischen Industrieobersten waren ganz toll mit ihm. Erklärlich dadurch, daß er sich neben seiner Wissenschaft (in welchem Fach der Wissenschaft er arbeitete, wußte Maurizius nicht) hauptsächlich mit Politik beschäftigte. »Wenn mir recht ist, waren es zwei Dinge, für die er sich mächtig ins Zeug legte: der Krieg mit Frankreich und die katholische Kirche. Da steckten natürlich die Jesuiten dahinter.« Wo er herstamme? Das habe man eigentlich nie erfahren. Er behauptete, er sei aus Schlesien, Sohn eines Rittergutsbesitzers, seine Mutter sei eine Adlige gewesen. Aber das Rittergut lag wahrscheinlich auf dem Mond, »als ich später mal nachforschte, wußte kein Mensch was von Waremmeschen Gütern«. Vermögen hatte er keins, das gab er selber zu, prunkte sogar mit seiner Armut; doch war er fast täglich im Kasino und beim Spieltisch zu sehen. Obwohl sie dort keinen aufnehmen, der nicht mindestens ein »Herr von« ist, nahmen sie ihn auf. Manchmal verlor er beträchtliche Summen, ohne daß jemand fragte, woher er das Geld hatte. Wenn er heute fünfhundert Mark in der Tasche hatte, veranstaltete er morgen ein Fest, das ihn tausend kostete und zu dem er die halbe Stadt einlud. Sie kamen alle. Sie kamen, obgleich mit der Zeit merkwürdige Geschichten über ihn umgingen. Da war eine brenzlige Sache mit einer Darlehensvermittlung. Dann der Selbstmord der Lilli Quästor, mit der er sich verlobt hatte, Tochter des Kohlenquästors; eines schönen Tages brachte sich das Mädchen um, niemand erfuhr, warum. Es wurde einfach vertuscht; »im Vertuschen sind wir ja groß«. Solange die Geheimräte und die Kohlenbarone ihre Hand über ihn hielten, war er gesichert. Schließlich hatte es aber ein Ende, die Sorte hat eine gute Witterung, schon vor dem großen Kladderadatsch hatten sie sich in der
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