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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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ein Erlebnis aus der vorigen Woche, von dem zu reden ihm bis jetzt die Zeit gefehlt. In sich gekehrt, die Pfeife im Mundwinkel, mit krächzender Stimme und unter häufigem Spucken brachte er die Geschichte vor.
    Es war so: Der Staatsanwalt hatte sein Plädoyer geschlossen, das zweite, das noch zermalmender als das erste war und auf das der Verteidiger, trockener, armseliger Mann und kläglich anzuhören nach der Schwertrede des »blutigen Andergast«, nur kurz erwiderte. Der Vorsitzende erteilte die Rechtsbelehrung, die Geschworenen zogen sich zurück, der Gerichtssaal – Publikum Kopf an Kopf, aus allen Ständen und Klassen gemischt – sott in Fieberspannung. Peter Paul, von zwei Freunden, die aus seinem Wohnort schon mit ihm gekommen waren, rechts und links geführt, verließ die gärende Menschenmasse, aus der das Gift der Sensation schwitzte. Es war sicher, daß die Geschworenenberatung und -abstimmung stundenlang dauern würde. Die beiden Begleiter hatten darauf bestanden, daß Peter Paul in seinen Gasthof ginge und die Entscheidung dort abwartete. Der eine war ein Rentamtmann aus Lorch, der andere ein Müller aus St. Goarshausen. Sie beauftragten einen jungen Unteroffizier, den Neffen des Rentamtmanns, ihnen ohne Säumen, so geschwind wie möglich, den Urteilsspruch zu überbringen; der Gasthof lag kaum fünf Minuten entfernt. Es galt, den alten Maurizius zu schonen, ihm über die Zeit hinwegzuhelfen. Der Unteroffizier versprach, auf dem Posten zu bleiben, und wenn es soweit war, es an Eile nicht fehlen zu lassen. Peter Paul tat alles, was man wollte. Er widersprach nicht, noch äußerte er einen Wunsch. Vor dem Tor des Gerichtsgebäudes – es war schon Abend, ein kalter Augustabend – traten noch zwei Alte zu den dreien, Bekannte aus ihrer Gegend, und schlossen sich ihnen in stummem Mitgefühl an, ein Optiker, ebenfalls aus St. Goarshausen, und ein Versicherungsinspektor aus Langenschwalbach. Alle vier folgten Peter Paul in sein Gasthauszimmer, das ziemlich geräumig war und in dessen Mitte ein großer, runder Tisch stand. Um diesen Tisch setzten sie sich, fünf Männer: Peter Paul Maurizius war weitaus der Jüngste unter ihnen, der Rentamtmann, als der Nächstälteste, war sechzig, der Optiker, der Älteste, war achtundsiebzig. Sie bestellten Bier, vor den Platz eines jeden wurde ein Glas hingestellt, keiner rührte es an. So saßen die fünf in ununterbrochenem Schweigen fünf volle Stunden und warteten auf das Urteil. Als die vierte Stunde vorüber war, erhob sich der Müller schwerfällig und öffnete weit die Tür zum Gang. Alle verstanden ihn. Es geschah, damit der Bote schneller das Zimmer finden sollte und damit man ihn gleich sollte hören können, wenn er von unten kam. Die letzte Stunde. »So eine Stunde hat es noch nicht gegeben, seit die Welt steht, junger Herr.« Es war ein geringer Gasthof, die Stiege war aus Holz, hatte keinen Teppichbelag und befand sich gleich neben dem Eingang. Endlich, zwölf Minuten vor zwölf, läutete es unten, nach einer Weile knirschte das Tor, wieder nach einer Weile rumpelten schwere Stiefel auf der Stiege, und alle fünf Männer, die Langsamkeit der Schritte richtig einschätzend, wußten Bescheid. Es war, als käme der Sensenmann selber die Treppe herauf. Dann erschien der junge Soldat auf der Schwelle, weiß wie ein Laken, die fünf Alten standen auf, ein einziger, tiefer Atemzug von allen fünf gleichzeitig: Verurteilung zum Tode.

4

    »Wo ist Waremme?«
    Maurizius überlegte. Er zog die schäbige Mütze fester in die Stirn. Es schien, als könne er sich nicht entschließen zu antworten. Man habe nichts von ihm gehört, knurrte er. Man könne sich ja denken, daß ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden sei. Habe es eilig gehabt zu verduften. Es habe auch kein Mensch mehr von ihm gesprochen, man habe nichts mehr von ihm erfahren, bis zum heutigen Tag. Sei außer Landes gegangen. Ebenso wie die Anna Jahn, die sei auch außer Landes gegangen. Wohin? Na ja, um das Jahr acht habe es mal geheißen, daß man sie alle beide, ihn und sie, in Deauville gesehen habe. Deauville, das sei doch der Name, wie? Seebad, wie? In Frankreich, wie? Der Alte nahm seine Pfeife aus dem Mund, hielt sie im steifen Arm vor sich und fixierte Etzel mit widerwärtig schielendem Blick. Der Knabe machte große Augen. Was war das? Das war neu. Ein Gerücht? Nur ein Gerücht? Ihn und sie gesehen? Wer hat sie gesehen? Wer hat es bezeugt? Maurizius zuckte die Achseln. »Er soll damals

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