Der Fall Maurizius
gedacht, so denkt er sich selbst; aber nur der Charakter von großem Zuschnitt wächst mit solcher Beamtung empor und erfüllt seinen Sinn; der kleinere, indem er sich spannt und überspannt und in ein verzweifeltes Mißverhältnis zur Aufgabe gerät, entblößt nur seine Unzulänglichkeit, und das Antlitz des unerbittlichen Sühneforderers erstarrt zur Polizeigrimasse.
Niemals hatte sich Etzel die Gestalt des Vaters so abgelöst von Väterlichkeit gezeigt als beim Lesen der achtzehneinhalb Jahre zurückliegenden Gerichtssaalberichte. Dadurch, daß er sich beständig bewußt machen mußte: ich war zu jener Zeit gar nicht am Leben, war gleichsam noch nicht im Spiel, nichts hing von mir ab, bewegte sich auf mich zu, alles geschah in kaum zu begreifender schauriger Weise ohne den jetzt so unleugbar seienden, handelnden, denkenden, durch die Welt schreitenden und von der Welt wissenden Etzel; dadurch bekam die Zeit etwas Betrügerisches, der Vater und seine Beteiligung an dem Ereignis, das ihm, Etzel, mit jedem Tag mehr zu schaffen machte, ja alle seine Gedanken zu beherrschen anfing, eine furchterweckende Maßlosigkeit der geistigen Form und persönlichen Wirkung, so daß er manchmal in seiner Vorstellung eine Art Graf von Saint-Germain wurde, der etwa schon beim Prozeß gegen Jean Calas dem Schein-Schuldigen, dem Unschuldigen zum Verderben geworden war. Es war das erste Mal, daß ihm die amtliche Tätigkeit des Vaters durch ein ganzes gerichtliches Verfahren hindurch, Verhandlung, Plädoyers und Urteil, in dramatischer Schilderung verlebendigt wurde. (Seit seiner letzten Beförderung, durch die ihm die diktierende Gewalt zufiel, erschien er ja im Gerichtssaal nur noch bei außerordentlichen Anlässen.) Es war für Etzel ein Bild, in welchem er sich nicht zurechtfinden und auch nicht finden konnte; der Name Andergast, da hätte er sich in verwehten Spuren finden müssen, aber es war so unverwandt wie Stein dem beseelten Auge, es hatte eine finstere Hostilität, der kein Schmerz etwas anzuhaben vermochte, kein Ruf und Aufschrei, kein Beweis, kein Argument, keine Not, kein Antlitz, nichts, nichts, der Gerichtete trat an, der Gerichtete trat ab, die Frage, die an ihn ging, metallen, unerweichlich, hieß nicht: Bist du schuldig oder nicht?, sie lautete: gibst du dich oder nicht? bekennst du dich oder nicht? unterwirfst du dich oder nicht? Dem tat die darüber hingegangene Zeit, achtzehneinhalb Jahre, keinen Abbruch, da war immer noch dieselbe Fanggier, dasselbe angemaßte, unrüttelbare Wissen von der Tat: es schnellte in die gegenwärtige Stunde hinein wie eine Stimme von nebenan, und Etzel, als ob die Stimme ihn selbst träfe und riefe, sprang auf, verriegelte die Tür, lief in der Stube auf und ab und preßte die Hände an die Ohren. Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, um dann bei Tisch, bei den »abendlichen Gesprächen«, unbefangen zu bleiben, fügsam Rede zu stehn, artig zuzuhören, die Miene des dankbar Belehrten zu zeigen, statt aufzustehn und vor ihn hinzutreten mit der Dringlichkeit, die wie elektrische Hochspannung in ihm war, zu fragen: Warst du von seiner Schuld überzeugt? hast du wahr und wahrhaftig an seine Tat geglaubt, damals? Seine fragenden Augen waren förmlich angeklammert an das große, strenge, verschlossene Gesicht, an die panzergleiche Stirn. Umsonst, natürlicherweise. Es gibt menschliche Beziehungen, die sofort zerbrächen, wenn im entscheidenden Augenblick das entscheidende Verständnis erfolgte. Sie bestehen nur dadurch, daß es nicht erfolgt.
Es bot sich jedoch Gelegenheit, den Anteil seines Vaters am Prozeß Maurizius in einer andern Beleuchtung zu sehen, und er konnte daraus die Meinung erkennen, die sich in einigen Köpfen der oberen Geistesschicht gebildet hatte. Der ihm die Belehrung angedeihen ließ, war Professor Förster-Löring, Soziolog und Nationalökonom, ein Mann, den Etzel achtete und von dessen Verdiensten Camill Raff oft mit Verehrung gesprochen hatte. Übrigens ein ungewöhnlich häßlicher Mann, verwachsen und mit einer gebrochenen, schiefgedrehten Nase. Seine beiden Söhne, Zwillinge, waren Etzels Klassenkameraden, er war oft bei ihnen im Hause gewesen, Herr von Andergast empfahl den Verkehr, jetzt luden sie ihn wieder ein, Ellmers und Schlehlein waren ebenfalls dort. Als der Tee gereicht wurde, gesellte sich der Professor zu den Knaben. Seine Gegenwart brachte immer eine fesselnde Unterhaltung in Gang, von dem und jenem kam man auf die moderne Rechtsprechung, ein
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