Der Fall Maurizius
der Vogel fliegt«); wie konnte das sein, wie konnte das ein Mensch, wie konnte ein Camill Raff seine Lebens- und Welterfahrung in den Wind schlagen und einen unmündigen Knaben in Gott weiß welcher gefährlichen Tollheit bestärken? Dennoch war da etwas, das den Lebens- und Welterfahrenen bis in die Grundfesten erschütterte. Alles geriet ins Wackeln wie bei einem Erdbeben; Vorsicht, Rücksicht, Furcht vor den Folgen, Wissen um die Vergeblichkeit, alles fiel zusammen, und nur der kleine, glühende Mensch blieb stehen mit seinem Ja oder Nein. So sagte denn Camill Raff wider Willen fast, in einer Art von Überwältigung, in einer Wallung von Trotz gegen die eigene Vernunft: »Man . . . ob man darf, Andergast . . . ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, ob man darf oder soll . . . Sie vielleicht . . . Sie dürfen und sollen es vielleicht . . .« Er stockte. Etzel sah ihn mit einem strahlenden, strahlend-dankbaren Lächeln an. Schweigend gingen sie noch ein Stück Wegs zusammen, schweigend trennten sie sich, mit einem Händedruck.
Was wird da? dachte Camill Raff, und die Ernüchterung stellte sich ein, Bedenken über Bedenken. Was hat der Knabe vor? Müßte man nicht als gewissenhafter Lehrer den Vater warnen? Das hieße aber die Freundschaft des merkwürdigen Jungen für immer einbüßen und sich selbst in seinen Augen zum Lügner und Schönredner machen. Was hat er nur vor, dieses halbe Kind? Den Sprung ins Eiskalte? Camill Raff fürchtet, der Sprung ins Eiskalte wird dem zarten Gefäß unheilbaren Schaden zufügen. Unerfindlich, was den Knaben so augenscheinlich aus unbefangenem Weben in eine Zielrichtung getrieben hat. Ein sechzehnjähriger Geist muß frei rotieren, sagt er sich, muß sich in der Illusion von Grenzenlosigkeit bewegen; wird er aus der Freiheit von Traum und Spiel in die Zweckbahn gezwungen, so fängt er an zu leiden, unvermeidlich, weil er ahnt und bald zu spüren bekommt, daß er auf die beglückende Wirrnis, die beglückend-unermeßliche Fülle zu verzichten hat, für die ihn das Leben nie wieder entschädigen kann.
6
Die Generalin hatte einen Schreck wie seit langem nicht, als Etzel die dreihundert Mark von ihr erbat. Er kam an einem gewöhnlichen Werktag, überfiel sie sogar in ihrem Atelier, wo sie an einem Blumenstück pinselte, umhalste sie und brachte in einem einzigen atemlosen Satz, ohne Einleitung, ohne Vorbereitung sein Anliegen vor. Eine Weile wußte die alte Dame nicht, was sie sagen sollte. Sie legte die Palette weg und starrte den Enkel entsetzt an. »Bist du wahnsinnig, Kind?« fragte sie mit blassen Lippen, »woher soll ich denn mir nichts, dir nichts so viel Geld nehmen? Und wozu willst du es haben? Auch wenn ich dir's geben könnte, wenn ich's entbehren könnte, wie sollt ich so eine Unbesonnenheit vor mir selber verantworten? Ich käme mir ja wie in einem sträflichen Komplott vor.« Na ja, drückte Etzels brennend-ungeduldige Miene aus, das wußt ich natürlich, das muß gesagt werden; warten wir, bis das Sprüchlein zu Ende ist. Als es zu Ende war, ließ er sich auf die Knie nieder, nahm die schmalen, weißen, kleinen Hände der alten Frau in seine nicht weniger schmalen und kleinen, obschon brauneren, und die Ungeduld in seinen Zügen verwandelte sich in einen Ernst, den die Generalin noch nicht darin wahrgenommen hatte und der sie mit einemmal um die komfortable Überlegenheit brachte, die ihr die Natur durch den Vorsprung von siebenundfünfzig Jahren ohne weitere Bemühung eingeräumt hatte. Wenn er ihr keinen Grund für sein Verlangen angibt, so ungefähr beginnt Etzel, geschieht es, weil sie den Grund weder billigen dürfte noch begreifen könnte. Weil sie dann das verhindern müßte und verhindern würde, wozu er das Geld nötig hat. Gewiß könnte sie auch jetzt schon hingehn und ihn denunzieren, da er sich durch seine Bitte bereits in ihre Hand gegeben hat. Aber das wird sie nicht tun. Nein, das wird sie niemals tun. Es wird ihr keinen Augenblick einfallen, daß er es zu einer schlechten Handlung braucht, dieses Geld. Sie sehe ihn bloß an, hier kniet er vor ihr, glaubt sie was Schlechtes? Nein. Er hat keine Schulden, er will sich nichts dafür kaufen. Soll er's beschwören? Nein. Ehrenwort geben? Nein. Er besitzt keine andere Ehre vor ihr als die in seinem Vor-ihr-Knien drinsteckt. Also. »Hör zu, Großmama. Hör mir gut zu. Wir verlieren keine Silbe darüber. Du leihst mir das Geld. Wenn ich mündig bin, geb ich dir's zurück. Lach nicht. Es ist noch eine
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