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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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lächelte. Vielleicht lächelte er nur, weil der andere geseufzt hatte, vielleicht aber hat er alles gespürt und begriffen, denn er hat einen entzückenden Verstand. Er spürt und umfängt diese ganze weite Welt, kennt alles, hat alles begriffen, darum lächelt er. Er blickt wieder vertrauensvoll zu seinem Lehrer auf und freut sich an dessen hübschem, jungem Gesicht. Eine Zeitlang gehen sie schweigend nebeneinander her. In seiner Vertrauenswallung macht Etzel auf einmal einige tastende Andeutungen, die etwas Licht auf seinen Zustand werfen und erkennen lassen, daß er sich in einer ernsthaften Krisis befindet. Er spricht von einem Zwiespalt, der ihn zum Entschluß drängt, und zwar zu einem Entschluß, der durchaus prinzipiellen Charakter tragen würde. Es handle sich, führt er mit seiner gestenreichen Beredsamkeit aus (ob er nicht von irgendwoher jüdisches Blut in den Adern hat? denkt Camill Raff zuweilen, wenn er die eifrigen Bewegungen, das heftig wechselnde Mienenspiel in dem brünetten Gesicht beobachtet), es handle sich nicht um Widersetzlichkeit, man könne sich nicht der Luft widersetzen, die man atmet, nur entziehen könne man sich ihr, und das sei eine kitzlige Sache, weil man doch nicht vorher wisse, ob man in der andern Luft, in die man dann gerate, besser werde atmen können. Also von Widersetzlichkeit sei nicht die Rede, von Widerspruch noch weniger. »Wo nicht gesprochen wird, ist auch kein Widerspruch, Sie verstehen, Herr Doktor, was ich sagen will. Ich bin in einer schauderhaften Zwickmühle. Ich muß mal sehen, wie ich aus der Zwickmühle herauskomme . . .« Er blieb stehen, drückte die Faust gegen die Brust und legte den Zeigefinger der andern Hand komisch ratlos an seine Nase.
    »Nun, so sprechen Sie frei von der Leber weg«, ermunterte ihn Camill Raff, »bis jetzt haben Sie nur in dunklen Hieroglyphen geredet, mein Teurer . . .«
    Etzel nahm einen Anlauf, kehrte sich Camill Raff zu und fragte: »Sagen Sie mal, Herr Doktor, gibt es eigentlich eine Kollision der Pflichten?«
    Raff wiegte den Kopf. »Hm . . . das geht allerdings an uralte und vielumstrittene Probleme der Ethik«, antwortete er lächelnd.
    »Sie weichen mir aus«, fuhr Etzel dringlich, fast flehend fort, »ich will das aber wissen. Gibt es eine Kollision der Pflichten, oder gibt es nur eine einzige Pflicht?«
    »Sie müssen sich deutlicher erklären, Andergast«, sagte Camill Raff, in die Enge getrieben und erstaunt über den kategorischen Ton des Knaben.
    »Gut«, nickte Etzel, »gut. Sie werden aber vielleicht die Erklärung nicht gelten lassen. Sie werden mir natürlich meine sechzehn Jahre vorhalten. Na ja. Jetzt bereits sechzehn Jahre vier Monate. Sie sind doppelt so alt, nicht wahr? Vierunddreißig? fünfunddreißig? So. Fürchterlich alt: fünfunddreißig. Mein Gott, schließlich sitz ich sechzehn Jahre auf demselben Fleck, in demselben Haus, in derselben Stube, ich bin kein Dummkopf, kenn mich mit den Menschen schon ein wenig aus, nur daß ich die Schererei mit meiner Kurzsichtigkeit habe. Werd mir halt eine Brille anschaffen, obwohl der Dr. Malapert nicht dafür ist . . . Ich denke: was verschlägt's, sechzehn oder neunzehn oder fünfundzwanzig, man kann nicht zuwarten und die Hände in den Schoß legen. Was ist mit dem Älterwerden denn gewonnen! Es gibt eben Fälle, wo es heißt: jetzt oder nie . . .« Er verhaspelte sich. Camill Raff, erstaunt und erstaunter, schaute ihn an. »Worauf wollen Sie also hinaus, Andergast?« forschte er mit halber Stimme und mit einer Empfindung, als müsse er den glühenden kleinen Menschen bei den Händen packen und ihm zurufen: Ruhe, Kind, eines nach dem andern, keine Überstürzung . . .
    »Antworten Sie mir auf folgende Frage, Herr Doktor«, begann Etzel wieder und haschte im Eifer des Sprechens, wie er vor kurzem bei dem alten Maurizius getan, nach Camill Raffs Ärmel, »antworten Sie mir nur auf das eine. Ein Mensch sitzt viele Jahre im Zuchthaus. Es ist möglich, daß er unschuldig verurteilt ist. Es ist möglich, daß man den Beweis dafür schaffen kann. Darf man sich durch irgendeinen Umstand davon zurückhalten lassen? Darf man zögern oder überlegen? Gibt es da überhaupt eine andere Pflicht? Sagen Sie mir das, Herr Doktor; ja oder nein?«
    Ja oder nein: wieder das Unbedingte, das enthusiastisch Unbedingte, die moralische Diktatur, und wieder sollte besinnungslos geantwortet werden, so wie der arme Robert Thielemann hatte besinnungslos antworten sollen (»der Tisch fliegt,

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