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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Donnerstag zum Mittagessen wieder zu Hause sein. Als nun Etzel am späten Abend des Mittwoch noch nicht heimgekehrt war, wurde die Rie unruhig. Um elf Uhr nachts entschloß sie sich, mit Förster-Lörings zu telephonieren, Thielemanns hatten kein Telephon in der Wohnung, sonst hätte sie sich an die gewandt, weil sie Robert, der öfter ins Haus kam, besser kannte. Es dauerte ziemlich lange, bis jemand am Apparat antwortete. Ihr Schrecken war nicht klein, als sie erfuhr, die beiden Buben seien zu Hause, lägen längst in ihren Betten und seien weder heute noch gestern über Land gewesen, keine Rede davon. Sie ließ in ihrer Bestürzung die Hörmuschel fallen, eilte in die Mädchenkammer und weckte die Köchin auf, beriet sich mit der, ließ sich am Ende beschwichtigen, konnte aber doch nicht schlafen gehen, sondern wanderte bis halb zwei in der Wohnung herum, schaute alle zehn Minuten zum Fenster hinaus, spähend, horchend, eine Beute gehäufter Angstvorstellungen von allerlei Katastrophen, Verbrechen, Unfällen und Entführungen. Erst als sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, legte sie sich zu Bett, schlief aber trotz aller Gemütsbelastung – es darf um der Wahrheit willen nicht verhehlt werden – einen recht gesunden Schlaf, der sie nicht vor der gewohnten Stunde verließ, eher etwas später. Der Tag und seine vertrauten Forderungen stimmte sie gefaßter, bei jedem Glockensignal im Flur atmete sie erleichtert auf, und obwohl sie jedesmal enttäuscht wurde, erwartete sie die Rückkehr des Knaben zuversichtlich. Erst als sie gegen zehn Uhr das Stubenmädchen zu Thielemanns geschickt hatte und dieses mit demselben Bescheid wiederkam, den schon Förster-Lörings gegeben, stellten sich die Angstbilder von neuem ein, und um ihnen zu entfliehen, zog sie sich an und ging in die Stadt, wo sie einige häusliche Angelegenheiten zu erledigen hatte. Als sie zurückkehrte, war es ein Uhr. Die erste Frage an das Mädchen war: »Ist er da?« Antwort: »Nein.« Ehe sie ihre Bestürzung verbergen konnte, öffnete sich die Flurtür, und Herr von Andergast stand vor ihr. Sie kehrte sich ihm zu, mit verfalteten Händen: »Etzel ist nicht heimgekommen, Herr Baron.« Herr von Andergast reichte dem Mädchen sein kleines Reisenecessaire, Mantel, Hut, sagte obenhin verwundert: »So? das ist merkwürdig«, warf einen forschenden Blick auf das schwammige, blasse Gesicht der Rie und ging in sein Zimmer. Dort, auf dem Schreibtisch, lag unter andern Briefen, die während seiner Abwesenheit gekommen waren, ein Brief von Etzel.
    2

    Er las ihn; keine Miene in seinem Gesicht veränderte sich. Er lehnte sich im Sessel zurück und schaute in die Luft. Eine Fliege schien ihn zu interessieren, die am Plafond hin und her schoß. Nach einer Weile nahm er das Kuvert und besah die Marke. Sie trug den Stadtpoststempel vom Dienstagmorgen. Wieder nach einer Weile nahm er das Hörrohr vom Telephon, ließ sich mit dem Polizeipräsidium verbinden und kündigte dem Polizeipräsidenten seinen Besuch für ein Viertel nach drei an. Während des Mittagessens war er vollkommen schweigsam. Umsonst machte die Rie verschiedene Anläufe, was ihr auf dem Herzen lag, zur Sprache zu bringen; Herr von Andergast schien unempfindlich und durchaus mit seinen Gedanken beschäftigt, genau wie an jedem andern Tag. Aber als er sich vom Tisch erhob, bat er sie in sein Zimmer und forderte sie trocken auf, ihre Wahrnehmungen betreffs Etzels Weggang von Hause zu berichten. Die Disposition ihrer Erzählung litt unter dem abweisenden Blick der veilchenblauen Augen. Es war, als ob sich Herr von Andergast bis zum Überdruß belästigt fühle von den vielen Worten. Den Umstand mit dem voluminösen Rucksack brachte sie wie eine Entdeckung vor, die sie erst in diesem Moment machte, mit »ach, ja« und »richtig« und »wer konnte an so was denken!« Herr von Andergast bestätigte ernsthaft: »Gewiß, wer kann auch immer denken, das ist nicht zu verlangen.« Sie sah ihn perplex an. Ihr Mund verzog sich zum Weinen. Herr von Andergast wünschte die Feststellung, was von Etzels Kleidern, Wäsche und Büchern fehle. Er erwarte darüber am Abend Bescheid. Hiermit bedeutete er die Rie, daß die Audienz zu Ende sei.
    Die Unterredung mit dem Polizeipräsidenten, Herrn von Altschul, verlief in kollegialen Formen. Zuerst erstattete er die offizielle Abgängigkeitsanzeige und gab das Signalement. Im weiteren Gespräch, nachdem der Polizeipräsident seine gebührende Teilnahme, ja eine Art

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