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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Betroffenheit geäußert, ließ Herr von Andergast durchblicken, daß er bei den Maßnahmen der Behörden, Verfolgung und Anhaltung des Flüchtlings, eine gewisse Schonung geübt wissen möchte, auch tunliche Geheimhaltung, zumal was die Mitteilungen an die Presse anlangte. Der Chef der Polizei verstand. Er sagte, er werde entsprechende Befehle erteilen. Die Frage, ob ein Grund vorhanden oder bekannt sei, der den jungen Mann zur Flucht veranlaßt, verneinte Herr von Andergast. (Ich brauche nicht ausdrücklich daraufhinzuweisen, denn es war schon aus dem Verhalten gegen die Rie ersichtlich, daß er des Briefes, den er von Etzel erhalten, mit keiner Silbe erwähnte und daß er entschlossen war, ihn auch ferner nicht zu erwähnen, einfach, als wäre er nicht geschrieben worden.) Ob der Knabe Vorbereitungen getroffen? setzte der Polizeipräsident sein Verhör fort, das, einem solchen Manne gegenüber, nur eine Reihe freundschaftlicher Erkundigungen sein konnte. Wohl nur die unerläßlichen, antwortete Herr von Andergast. Ob er sich einem Hausgenossen eröffnet, einem Kameraden anvertraut habe? Herr von Andergast zuckte die Achseln. Seines Wissens nicht, sagte er, doch werde er nachforschen; bei der Kürze der Zeit habe er sich bis jetzt noch nicht umfassend informieren können. Aber habe denn der Sechzehnjährige die zu seiner Entfernung, einer offenbar auf längere Dauer berechneten Entfernung, erforderlichen Geldmittel gehabt? Auch darüber könne er keine Auskunft geben, antwortete Herr von Andergast, im Grunde handle es sich wohl nur um einen Dummenjungenstreich; allein der angerührte Umstand sei einigermaßen beunruhigend, er verhehle sich das nicht. Bestünde eine Vermutung, wohin sich der Knabe gewendet? Habe er heimliche Beziehungen gehabt? Heimliche Korrespondenz? Habe er einer politischen Jugendgruppe angehört? Nichts dergleichen sei auch nur denkbar, erwiderte Herr von Andergast kühl. Auch keine verwandtschaftlichen Einflüsse, die im verborgenen Macht über ihn erlangt haben könnten? (Der Polizeipräsident kannte natürlich die Familienverhältnisse des Freiherrn und stellte die Frage zaudernd, als bitte er wegen der Indiskretion um Verzeihung.) Herr von Andergast senkte die Lider und erwiderte mit nicht ganz motivierter Schärfe: »Nein, auch das nicht. Auf keinen Fall.« Er griff nach seinem Hut, erhob sich und sagte: »Der Personenbeschreibung ist noch etwas hinzuzufügen. Mein Sohn ist sehr kurzsichtig. In einem Grad, daß er Gesichter erst auf zehn Schritt Distanz unterscheidet. Da der Zustand in den letzten Jahren stationär geblieben ist, hat der Arzt von der Benutzung einer Brille vorläufig abgeraten. Aber das Gebrechen, denke ich, wird seine Anhaltung erleichtern.«
    »Ich denke auch«, erwiderte der Polizeichef, legte den Notizblock beiseite und erhob sich gleichfalls. Er blieb nachdenklich, als ihn der Oberstaatsanwalt verlassen hatte. Männer dieses Berufes haben eine außerordentliche Witterung für die Vollständigkeit oder Lückenhaftigkeit von Aussagen, für das geringste Verschweigen, den kaum wahrnehmbaren Vorbehalt. Er konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, daß Herr von Andergast es an voller Aufrichtigkeit habe fehlen lassen und für nötig befunden habe, wichtige Einzelheiten zu verschleiern. Doch sagte er sich, daß er sich darum nicht zu kümmern brauche. Wenn er aber der Meinung gewesen war, es werde nicht schwer sein, des Flüchtlings habhaft zu werden und ihn dem Vater wieder zuzuführen, so hatte er sich gründlich geirrt. Der behördliche Apparat spielte mit der gewohnten Präzision, die Bahnhofswachen wurden benachrichtigt, sämtliche Polizeistellen, Grenzämter, Gendarmeriestationen in Tätigkeit gesetzt, nur die öffentliche Bekanntmachung unterblieb. Aber auch die hätte vermutlich keinen bessern Erfolg gehabt. Der Knabe war wie vom Erdboden verschwunden.
    3

    Der mehrmals erwähnte Brief Etzels war nicht danach angetan, Herrn von Andergast mild zu stimmen. Er war als Vater tief verletzt, in seiner Autorität beleidigt und fühlte sich als Mann, als Mensch, als vertrauender Freund (denn so weit ging seine Selbsttäuschung, daß er sich durchaus als Freund des Sohnes betrachtet hatte) schmählich hintergangen und auf listige Weise um die Frucht dieses von ihm so großmütig gewährten Vertrauens betrogen. Zum Lachen schon der erste Satz: »Ich kann nicht länger bei Dir bleiben; wenn ich Dein Haus verlasse, ist es kein leichtfertiger Entschluß, ich habe gewissenhaft

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