Der Fall Maurizius
unzählige Male in mechanischer Lässigkeit die Zeit abgelesen hat, und man bemerkt plötzlich, daß auf dem Zifferblatt die Zeiger fehlen. Dazu kam das jammervolle Wesen der Rie: Klage, Frage, Vorwurf, Verwunderung, alles stumm, lästig-scheu, enervierend in der Wiederholung. Dazu kam die Notwendigkeit, nach verschiedenen Seiten telephonische Auskünfte zu erteilen, an den Rektor des Gymnasiums, den Ordinarius Dr. Raff (welchen er bei dieser Gelegenheit, aufmerksam gemacht durch einen rückhältig verlegenen Ton, für den nächsten Sonntag um seinen Besuch bat), an allerlei Bekannte, die von der rätselhaften Entweichung des Knaben gehört hatten und sich neugierig-teilnehmende Nachfrage nicht versagen konnten. Es war ganz ärgerlich unbequem, so sehr, daß Herr von Andergast den Plan ins Auge faßte, Urlaub zu nehmen und für einige Wochen zu verreisen. Aber der Plan blieb unausgeführt.
4
Die Generalin hatte am Freitagnachmittag mit der Rie telephoniert und von ihr alles erfahren. Am Abend rief sie ihren Sohn an. Herr von Andergast wartete auf den Anruf. Er hatte seine Mutter im Verdacht der Vorschubleistung. Da nicht anzunehmen war, daß der Junge ohne einen Pfennig Geld das Weite gesucht hatte und die Großmutter für ihn die nächste war, an die er sich wenden konnte, was bei ihrer oft bewiesenen Nachgiebigkeit ziemlich sicheren Erfolg versprach, erschien der Verdacht von vornherein wie halbe Gewißheit. Die Generalin sagte mit zitternder Stimme, sie sei krank, könne sich nicht aus dem Haus rühren, habe ihn vergeblich im Amt angerufen, er möge gleich, denselben Abend noch, zu ihr kommen. Herr von Andergast bestellte ein Taxi und fuhr hinaus. Nachdem er fünf Minuten scheinbar ganz harmlos mit ihr gesprochen, hatte er bereits das Geständnis von ihr, daß sie Etzel dreihundert Mark gegeben. Die spielende Sicherheit, mit der er es zuwege gebracht, bestürzte sie, offenen Mundes schaute sie ihn an, wehrlos. Sie lag im Bett, eine Atlasdecke umhüllte ihre zarte Gestalt, das kleine Köpfchen ruhte elegisch auf den gestickten Kissen. Herr von Andergast seinerseits bewahrte die höflichste Miene von der Welt. Er hatte ein elfenbeinernes Papiermesser vom Nachttisch genommen, hielt es zwischen den Zeigefingern beider Hände, und in seinem Gesicht war keinerlei Gemütsbewegung zu entdecken. Seine Taktik lief ohne Zweifel darauf hinaus, alles durch Schweigen auszudrücken, was mit Worten zu sagen, vielleicht widerlegbaren, vielleicht anfechtbaren, er verschmähte. Er kannte das Gewicht und die Wirkung seines Schweigens in solchen Fällen und wußte es zu berechnen wie ein Artillerieoffizier die Flugbahn und den Einschlagspunkt einer Sprenggranate. Was er erwartete, trat ein. Die Generalin verlor die Contenance, Zorn verdunkelte ihr Auge, sie bäumte sich gegen die Tortur, die ihr seine vieldeutige, verbindliche Stummheit verursachte, und rief ihm zu, er selber habe es mit dem Kind verdorben, er selber trage die Schuld, er und sein Kasernenregiment, das Bübchen sei wohl auf und davon gelaufen, um . . . na, um vielleicht zu seiner Mutter zu gehen und sich . . . ja, was denn . . . mein Gott, ein bißchen, ein klein bißchen verwöhnen zu lassen. Vielleicht habe ihm das gefehlt, gerade das, ein bißchen verwöhnt zu werden. Herr von Andergast blickte interessiert empor. »Ei sieh doch, Mama«, sagte er kühl verwundert, »das erste, was ich höre. Wer hätte an so etwas gedacht! Nie wäre ich auf die Idee verfallen. Wie kommst du darauf? Ist es eine bloße Mutmaßung von dir oder hast du einen bestimmten Anhalt? Wie sollte er denn erfahren haben . . . sonderbar . . . da wäre ja der verwerflichste Verrat im Spiel . . . hast du etwa Verbindungen angeknüpft? Ich meine, ist dir Näheres über . . . über ihren Aufenthalt bekannt?«
Sein veilchenblauer Blick ruhte mit eiserner Gelassenheit auf dem Gesicht der alten Frau, deren erschrockene Kinderaugen, wie zwei Küken, die einen Habicht über sich wissen, zu flüchten trachteten. Sie machte eine abwehrende Bewegung. »O nein«, versicherte sie hastig seufzend, mit einem Ausdruck von Bedauern, der zu echt klang, als daß Herr von Andergast an ihren Worten hätte zweifeln können, »woher denn! Wie sollt ich denn! Es ist dir und deinem System gelungen, allen um dich herum die Augen zu verbinden und den Mund zu verstopfen. Wer soll sich denn trauen, auch wenn er was wüßte! Manchmal, Wolf, frag ich mich, ob du überhaupt noch ein lebendiger Mensch bist, mit einem Herzen im
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