Der Fall Maurizius
damit gerungen.« Ei, er hat gerungen; das Haus verlassen; Entschluß; was berechtigt, was befähigt dich, Entschlüsse zu fassen, naseweiser Bengel? Wer hat dich gelehrt, zu urteilen, woher kommt dir, was das Gewissen fordert oder verbietet, wer hat dich um Gründe gefragt? Dann das: »Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht. Dagegen bin ich wehrlos, daß Du meine Jugend verachtest, aber vielleicht kann ich das Ziel erreichen, das ich mir setze, und so Dich zwingen, meine Person zu achten, trotz ihrer Jugend.« Dreistigkeit. Man ist durch vielfachen Einblick in die Weltdinge davor behütet, in den banalen Jammer der Eltern zu verfallen, die sich über Undank der Kinder beklagen, obschon man sich nicht fürchtet, für passé zu gelten, wenn man feststellt, daß sie an taktloser Überschätzung dessen, was sie tun und sind und wollen, ihresgleichen suchen; aber die Tonart: »Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht«, erregte schließlich doch den Zweifel, ob man es am Ende nicht an wirksamer Züchtigung habe fehlen lassen, wie gering das erzieherische Ansehen von derlei Maßregeln auch sein mochte. Dann die Krönung: »Seit ich von dem Schicksal und dem Prozeß des Leonhart Maurizius weiß und dem Anteil, den Du an seiner Verurteilung hast, ist keine Ruhe mehr in mir, da muß die Wahrheit an den Tag, ich will die Wahrheit finden . . .« Ein Satz, der bei all seiner törichten Anmaßung nur mitleidiges Achselzucken zuließ.
Der vollständige Brief lautete:
»Teurer Papa. Ich kann nicht länger bei Dir bleiben; wenn ich Dein Haus verlasse, ist es kein leichtfertiger Entschluß, ich habe gewissenhaft damit gerungen. Ich bitte Dich von Herzen, in dem, was ich tue, nicht Mangel an Ehrfurcht zu erblicken; was ich Dir schuldig bin, ist mir bewußt. Aber wir haben keinen Weg zueinander, es ist aussichtslos für mich, einen zu suchen. Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht. Dagegen bin ich wehrlos, daß Du meine Jugend verachtest; aber vielleicht kann ich das Ziel erreichen, das ich mir setze und so Dich zwingen, meine Person zu achten, trotz ihrer Jugend. Gedanken erzeugen Gedanken, sagt man, aber die Wahrheit ist außerhalb, und man muß sie sich erarbeiten wie ein Werk, glaub ich. Ohne Hebel kann man Schweres nicht heben, ein Name ist für mich Hebel geworden: Seit ich von dem Schicksal und dem Prozeß des Leonhart Maurizius weiß und dem Anteil, den Du an seiner Verurteilung hast, ist keine Ruhe mehr in mir, da muß die Wahrheit an den Tag, ich will die Wahrheit finden. Eine große Bitte noch, ich traue mich kaum, sie niederzuschreiben, trau mich auch nicht zu hoffen, daß Du sie erfüllst: Verfolge mich nicht, laß mich nicht verfolgen, laß mich frei, ich kann nicht sagen für wie lange, sei mein Gegner nicht in dieser Sache. Dein Sohn Etzel.«
Reizend, war Herrn von Andergasts sarkastische Betrachtung, neben allem andern möchte er sich noch den Luxus meiner stillschweigenden Billigung leisten; aber man gehe zur Tagesordnung über, so peinlich und verdrießlich die Geschichte auch ist; daß ich es nicht voraussah und mich überrumpeln ließ und nun dastehe wie der Narr eines Narren, doppelter Narr, ist mein Fehler, ich muß mich an den Gedanken gewöhnen, von einem Lausbuben genasführt worden zu sein.
Der Brief war zu vergessen. Die Erinnerung an ihn erregte ein Gefühl, wie wenn man mit einem spitzen Stein im Stiefel herumgeht und keine Möglichkeit hat, die schmerzende Störung mit Anstand zu beseitigen. Aber es war nicht so einfach zu vergessen. Es hatte Herrn von Andergast widerstrebt, sich der großartigen Machtmittel des Staates wegen eines »Dummenjungenstreiches« zu bedienen. Er konnte sich nicht entschließen, in dieser Flucht etwas anderes zu sehen als eine Albernheit, deren angegebene Beweggründe er ignorierte. Über die Beweggründe nachzudenken, hielt er durchaus für entwürdigend. Er hatte die Gabe, seine Gedanken von einem Gegenstand abzuhalten, mit dem er sich nicht beschäftigen wollte. Es war eine Frage der Selbstbeherrschung. Mit dem Vergehen der Tage jedoch und als die getroffenen Anstalten trotz ihrer erprobten Vortrefflichkeit ergebnislos blieben, rückte der »Dummejungenstreich« in ein neues Licht, erzwang sich zum mindesten eine ihm nicht zukommende Beachtung, und damit war eine Unbehaglichkeit verbunden, wie wenn man auf eine Uhr blickt, von der man
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