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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Leibe, wie andere Leute. Du machst einem angst. Du kommst in ein Zimmer, und schon wird einem angst.« Herr von Andergast stand lächelnd auf. »Ich hoffe, deine Unpäßlichkeit ist nur vorübergehend, liebe Mama«, sagte er in einem Ton zwischen schonender Fürsorge und müder Gelangweiltheit, »ich werde Nanny jedenfalls bitten, mich morgen zu benachrichtigen, wie es dir geht und was der Arzt verordnet hat . . .« Er wollte abschiednehmend ihre Hand küssen, doch sie, verletzt von seinem hochmütigen Ausweichen, bis zur Entrüstung gereizt durch seine unerschütterliche Ruhe, herrschte ihn an: »Bleib! Nicht so geschwind! So geschwind sind wir nicht fertig. Wo ist Etzel? Wo ist er, dein Sohn? Du weißt es nicht? Und ich soll's wissen? Mir mutest du zu, daß ich mit ihm im Einverständnis bin? Ich hab's ihm ja gesagt, genau so. Ich kenne meine Pappenheimer. Nun, was soll geschehn? Was willst du tun? Natürlich deine Polizeihunde auf ihn hetzen. Ihn noch bockiger machen. Das ist ja euer A und O, die Polizei. Hast du denn eine Ahnung, was das für ein Junge ist? Was der in sich hat, was mit dem los ist? Nein, nichts weißt du, nichts, nichts, nichts, von ihm nichts, von keinem Menschen was. Hast du doch auch die arme Sophia wie einen Hund hinausgejagt in die Welt und ihren . . . ihren Liebhaber zum Meineid getrieben, so daß ihm nichts übrigblieb, als sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Und wenn auch alles nach Recht und Ehrenvorschrift zugegangen ist, korrekt wie beim Parademarsch . . . naja, ich sage nichts, ich sage nichts, zuweilen verbrennt's mir halt die Seele, wenn ich so liege und drüber nachdenke.« Mit ihren letzten Worten lenkte sie erschrocken ein, da sie das Erbleichen des Sohnes bemerkte. Sie hatte sich hinreißen lassen, der Kummer um Etzel, vieles Zurückgedrängte von Jahren hatte Gewalt über ihr entzündliches Gemüt erlangt, unbesonnen hatte sie die Decke von vergangenem Unheil weggezogen und auf den Punkt gedeutet, der, vom andern Geschehen abgelöst, allerdings wie untilgbares Verschulden aussah. Aber dahinter lag ein Leben, lagen Schicksale. Sie bereute ihre Worte, kaum daß sie ihr entschlüpft, schlug die Hände vor die Augen und schluchzte leise. In der Tat war das Gesicht Wolf von Andergasts so weiß geworden wie ein Stück Gips. Er hob langsam die linke Hand und zerknüllte den grauen Kinnbart, die Zungenspitze näßte rasch die Lippen, die geröteten Lider senkten sich bis auf einen dünnen Spalt, und er sagte, sehr leise: »Schön, Mama. Ich habe nicht im Sinn, deine romanhaften Vorstellungen zu berichtigen. Habe künftig die Güte, jede Anspielung auf meine Person und meine Vergangenheit zu unterlassen, wenn du Wert darauflegst, daß der sporadische Verkehr zwischen uns fortbestehen soll.« Eine echt Andergastsche »Schrankenrede«.
    Die alte Frau bereute, bereute. Aber was fruchtete das! Die Menschen, die sich aus Übereilung mit ihrer Zunge verfehlen, geraten dadurch in eine weit üblere Situation als diejenigen, die sie mit gutem Grund wegen ihrer Handlungen anklagen. Wenn sie nur ein Gramm Unrecht tun, verschaffen sie dem andern gleich einen Zentner Vorteil, und ihnen bleibt Beschämung und Reue (denen sich die Generalin ausgiebig überließ).
    Am nächsten Morgen zog Herr von Andergast die Rie nochmals ins Verhör. Die Worte der Generalin: »Er wird zu seiner Mutter gehen«, wollten ihm nicht aus dem Kopf. Da die alte Dame glaubhaft genug beteuert hatte, sich jeder Einflüsterung enthalten zu haben, konnte nur die Rie in ihrer Beschränktheit schuldig geworden sein; aber woher hatte sie ihre Wissenschaft bezogen? Daß der Junge nicht zu seiner Mutter gehen konnte, lag am Tage; die französische Grenze konnte er schwerlich passieren, außerdem war nicht anzunehmen, so romantisch-abstrus auch das Unterfangen war, daß gerade der ausdrücklich bezeichnete Grund seiner Flucht eine Lüge war. So sah die Sache nicht aus, und das war nicht die Art des Jungen. Dennoch wollte Herr von Andergast den zufällig aufgefangenen Faden nicht wieder fallen lassen, war es auch nur, um seine Leute kennenzulernen; nach seiner Meinung hatte jeder Mensch, der unbescholtenste, der unangreifbarste noch, einen Winkel in der Seele, wo der Keim zum Verbrechen saß, weshalb man sie nie ganz kannte. Und was die Frau anging, die beunruhigenderweise ihr Domizil gewechselt hatte und der es seit einiger Zeit beliebte, ihn Etzels wegen mit Zuschriften zu behelligen, so war nicht abzuschätzen, zu welchen

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