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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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vertragswidrigen Mitteln sie in ihrer plötzlich erwachten sogenannten Sehnsucht nach dem Jungen greifen würde. Er entbot also die Rie zu sich.
    Sie war viel zu zerknirscht von seiner unerbittlichen Dringlichkeit, um zu leugnen, daß sie die Kenntnis von dem veränderten Aufenthalt der Frau aus dem Poststempel des letzten Briefes geschöpft, und gab unter Tränen zu, mit Etzel darüber gesprochen zu haben, sie habe sich nichts Böses dabei gedacht. Herr von Andergast sagte: »Ich betrachte Ihr Vorgehen als Vertrauensbruch; wenn ich keine Konsequenzen daraus ziehe, haben Sie es nur dem Umstand zu verdanken, daß Sie so lange in meinem Hause sind.« Es blieb ihm von dieser Unterredung ein bitterer Geschmack zurück, ihm war, als kehre das »System« seine Stacheln gegen ihn selber, als säßen seine Spione ihm selber auf den Fersen, als würden seine Kreaturen zu Verrätern. Ärgerliches Intermezzo das Ganze, so hatte es zunächst ausgesehen: ein junger Mensch mit einer überspannten Idee im Hirn entwischt aus dem väterlichen Haus, man fängt ihn wieder ein und stellt ihn für eine Weile kalt, was sonst? Indessen, es war anders, es war, vielleicht, ein wenig anders. Aber wie? wodurch? was war denn das »Andere«, Vertrackte, Quere, Verstimmende?
    Er hatte sich vorgenommen, Herrn von Altschul anzurufen, um zu fragen, ob man bereits eine Spur des Ausreißers gefunden habe. Er unterließ es. Jedesmal, wenn er den Hörer vom Apparat nehmen wollte, preßte er wie von Widerwillen erfaßt die Lippen zusammen und saß eine Zeitlang in finsterem Nachdenken vor seinem Schreibtisch.
    5

    Mit Vorbedacht stimmte sich Herr von Andergast gegenüber Camill Raff auf den Ton der Kordialität. Er drückte ihm in einer Art die Hand, als habe er ein vertrauliches Beisammensein mit ihm längst gewünscht und setze diese Gesinnung auch bei dem andern voraus. In Wirklichkeit sah er in ihm bloß einen kleinen Schullehrer, trotz des Rufes, der über ihn ging; manche machten viel Aufhebens von seinem Geist und seiner Bildung, aber Herr von Andergast nahm es nicht an, er schätzte die Schullehrer gering, und zwar von allen Kategorien, er verbarg es sorgfältig, aber es war in ihm, vielleicht war es ein feudalistisches Überbleibsel oder der Umstand, daß starken Persönlichkeiten oft eine gewisse Unduldsamkeit gegen das allgemein Erfahrbare, den allgemein zugänglichen, daher verdünnten Wissensstoff anhaftet. Camill Raff war jedenfalls von dem freundlichen Empfang überrascht. Er kannte Herrn von Andergast nur von dessen sozusagen amtlichen Besuchen im Gymnasium her. Es gehörte zu seinen Gepflogenheiten, sich zwei-, dreimal in jedem Semester beim Ordinarius nach den Fortschritten des Sohnes zu erkundigen. Camill Raff war immer froh gewesen, wenn dieses Gespräch, dürr und feierlich, wie es sich abspielte, mit guter Manier überstanden war. Nun saß da ein liebenswürdiger Herr, der scharmant zu plaudern wußte. Leute in kleinen Verhältnissen lassen sich durch das artige Entgegenkommen eines sozial höher Gestellten stets bestricken, da nützt ihnen keine Philosophie und kein demokratischer Stolz. Dr. Raff war viel zu gescheit, um das nicht zu wissen, und war auf der Hut. Trotzdem unterlag er dem Zauber des ihm an Menschenkenntnis und Gewandtheit freilich unendlich überlegenen Mannes und bemerkte die Falle nicht, die ihm Herr von Andergast legte; denn dieser hatte einige Ursache zu dem Verdacht (auch hier Verdacht, auf allen Wegen Verdacht, das Netz ging aus den Maschen, überall treulose Subalterne), daß der Einfluß, den Camill Raff auf Etzel geübt, nicht ausschließlich edukativ gewesen sei, daß ein schädliches, vielleicht sogar schuldvolles Tolerieren verderblicher Neigungen gewaltet habe.
    Camill Raff seinerseits hatte auch einen bestimmten intriganten Anreiz. Er hatte ja eine ziemlich genaue Kenntnis und eine noch bessere Vorstellung von Etzels Person und Wesen, und er sagte sich: dieser Vater hat vermutlich keinen rechten Begriff von seinem Kind; wenn jemand ihm den Begriff geben kann, bin ich es, und ich will es auf eine Weise tun, die er nicht so schnell vergessen wird. Zweierlei bewegte ihn dabei: erstens eine der Eitelkeit verwandte Regung, die in einem solchen Fall auch dem lautersten Berichterstatter nicht fremd ist, zweitens das Bedürfnis, den Druck, den Herr von Andergast ungeachtet aller Freundlichkeit auf ihn ausübte, durch Selbstentfaltung zu mildern. So – jeder in seinem besonderen Interessenspiel – agierten sie

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