Der Fall Maurizius
scheinbar in schönstem Frieden gegeneinander. Raff erzählte, wie er Etzel vor anderthalb Jahren in der Ferienkolonie im Odenwald kennengelernt, wie ausnehmend ihm der Knabe gefallen habe, so daß er, als er im gleichen Herbst an das hiesige Gymnasium berufen worden, sich über die glückliche Fügung gefreut habe, die ihn zu seinem Schüler gemacht.
Er habe sich viel mit dem Jungen beschäftigt, namentlich im letzten Halbjahr, seit er in der Obersekunda sitze und er, Raff, Ordinarius der Klasse sei. Herr von Andergast beugte sich ein wenig vor, die Hände waren auf den übereinandergeschlagenen Knien gekreuzt, Haltung und Miene drückten eine höfliche Wißbegierde aus, die Camill Raff schmeichelte und ihn zu einer gründlichen Charakteranalyse verlockte, voller Feinheit, voller Sympathie, voll der geheimen Tendenz, dem Vater unerwartet Neues über den Sohn zu sagen. Er spricht von der wasserklaren Durchsichtigkeit von Etzels Natur. Es ist nicht eine Durchsichtigkeit im gewöhnlichen Sinn, nicht, was man gemeinhin Offenheit nennt. Offen, nein, offen ist Etzel keineswegs, zwar nicht verschlossen, eher umkapselt, mit vielen Hüllen versehen. Was Camill Raff mit der Durchsichtigkeit meint, betrifft das innere Material, das Einleuchtende der Gesamtwirkung, eine eigene Art seelischer Ordnung. Es stimmt immer alles. Man hat im Umgang mit ihm immer das angenehme Gefühl: stimmt. Nur so kann es sein, so macht man, so sagt man das und das, so verhält man sich gegen einen Freundschaftsdienst, gegen eine Beleidigung, so in der Verlegenheit, im Zorn, so und nur so, weil man eben so und nur so ist , weil man die Gabe hat, zu sein, was man ist, und nicht zu scheinen braucht, was man sein möchte: ein Vorzug, der so selten ist, daß nur wenig Menschen seine Seltenheit begreifen, obwohl die meisten unaufhörlich davon reden. Es gehört allerdings dazu eine ganz bestimmte Sorte Mut. Aber Mut ist ja in solchen Fällen nur eine Tempofrage. Manches im Leben ist nur Ergebnis des Tempos, was wir als Frucht sittlicher Anlage betrachten. Camill Raff hat bisweilen bei den Knaben die Schnelligkeit der Reaktionen verglichen. Er hat gefunden, daß langsame Seelen (die ja in elastischen, in raschen Leibern wohnen können) eher zum Schlechten neigen als die feurigen, die geschwinden. Was ist zum Beispiel Gerechtigkeitsliebe anderes, die Äußerung davon anderes als eine blitzartige Zündung im Gehirn, glühend aufeinanderprallende Assoziationen der Phantasie? Er hat Etzel bei Streitigkeiten mit Kameraden beobachtet; bei ihren Spielen; in Situationen, wo es auf Anständigkeit, Verschwiegenheit, Hilfsbereitschaft, Ritterlichkeit ankam; er war jedesmal erstaunt über die Richtigkeit, die Kraft, mit der er sich in jedem Konflikt stellte, sich selbst und andere. Einmal hatten sie in der Klasse dem Mathematikprofessor einen garstigen Streich gespielt. Dieser Herr ist ein Liebhaber von Süßigkeiten, in seiner Manteltasche steckt fast immer eine Tüte mit Bonbons, die Jungen wußten es natürlich und mischten ihm eines Tages heftig abführende Zuckerplätzchen in den Vorrat. Thielemann war der Anstifter. Der Professor kam am nächsten Morgen wütend in die Stunde, erklärte, sich mit der Ausfindigmachung des Schuldigen nicht weiter befassen zu wollen, alle seien schuld, daher begnüge er sich damit, einen einzigen zur Verantwortung zu ziehen und zu bestrafen, dem Betreffenden stehe es frei, sich der Strafe zu entziehen, wenn er den wahren Schuldigen nenne. So griff er aufs Geratewohl einen heraus, verlangte von dem ein Geständnis, das, wie sich denken läßt, nicht erfolgte, und diktierte ihm eine recht harte Strafe. Das Verfahren erregte Etzels Zorn, er konnte es nicht aushalten, daß ein Unschuldiger – und der wirklich Angeklagte war zufällig der Unbeteiligtste an dem Anschlag – für den Schuldigen büßen sollte, er erhob sich und bezichtigte sich selber. Er habe es getan, er sei zu bestrafen. Das machte einen starken Eindruck auf die Klasse, die Jungens wollten es nicht zulassen, Widerspruch entstand, es brach eine förmliche kleine Revolte aus; glücklicherweise besaß der Professor Besonnenheit genug, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, das Verhör, das er mit Etzel vornahm, war etwas lau, er verließ das Klassenzimmer, um sich, wie er sagte, mit dem Ordinarius zu beraten; Camill Raff suchte ihn zu beschwichtigen und sorgte dafür, daß die Sache im Sand verlief, auch um den Mann selbst zu schonen und ihn vor noch mehr
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