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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Lächerlichkeit zu bewahren. Nachher hatte er eine lange Auseinandersetzung mit Etzel. Während er dies Gespräch schildert, huscht ein undeutbares Lächeln über sein hübsches, melancholisches Gesicht, ein fast spitzbübisches Lächeln. »Ich hatte große Mühe, ihn mir vom Leib zu halten mit seiner possierlichen Entrüstung, mit seiner unverschämten Kaltblütigkeit, von den Menschen das zu fordern, was sie eigentlich von Rechts und Vernunfts wegen aus sich selber tun müssen, um nicht unaufhörlich Verwirrung und Plage in die Welt zu bringen«, sagt Camill Raff; »das war ungefähr der Sinn, ich gebe es etwas komplizierter wieder, doch das war der Sinn: die Leute sollen folgerichtig handeln: wer ein Geschäft betreibt, soll das Geschäft verstehen, ein Richter soll nur urteilen, wenn nicht der Schatten eines Zweifels an der Schuld besteht. Ich mußte ihm erwidern: mein Lieber, das sind Selbstverständlichkeiten, an denen schon Heroen und Heilige verblutet sind.«
    6

    Herr von Andergast hatte die Lider über die veilchenblauen Augen herabgelassen. Es sah aus, als hätte sich der Theatervorhang über einen Szenenwechsel gesenkt. Er rührte sich kaum. Er ließ nur ein halb verbindliches, halb skeptisches »Hm« hören. Camill Raff, ohne Ahnung von der wahren Beschaffenheit des Mannes, seinem eisigen Hochmut, seiner geistigen Verletzlichkeit, der Starrheit seiner Anschauungen, glaubte fortfahren, den Knaben noch eingehender erklären zu müssen. Er wollte Herrn von Andergast überzeugen (Gipfel der Naivität); wovon überzeugen? Das wußte er schließlich selbst nicht mehr genau, er spürte nur den steinharten schweigenden Widerspruch und stemmte sich dagegen. Er erzählt, was mit Karl Zehntner passiert war, die Geschichte von dem gestohlenen Fünfmarkschein und wie ihm Etzel seine Skrupel gebeichtet, weil er einen Kameraden aus Übereilung ins Unglück gestürzt. Auch diese Begebenheit kennt Herr von Andergast nicht, er horcht auf, aber seine Miene verrät immer nur dieselbe höfliche Wißbegierde. Camill Raff sagt: »Ein so zartes Gefühl für das Maß ist absolut ergreifend. Ich wenigstens kenne nichts, was mich stärker packt. Ich meine das Maß dafür, was der andere Mensch tragen kann und was erlaubt ist, ihm aufzubürden . . .« – »Sie haben den Jungen wirklich aus dem Effeff studiert«, schaltete Herr von Andergast trocken ein. »Gewiß, Herr Baron, ich hielt es für eine meiner Aufgaben.« – »Gleichwohl scheinen Sie mir bestrebt, eine Tugendglorie um sein Haupt zu weben. Sie verzeihen, wenn ich das ein wenig übertrieben finde. Der Junge hat seine guten Eigenschaften, er ist in mancher Hinsicht nicht ohne Tüchtigkeit, von nicht ganz schlechter Zucht überdies, ziemlich vif, bisweilen ziemlich dreist und, verhehlen wir es uns nicht, wo er seine Zwecke durchsetzen will, mit einer reichlichen Portion Verschlagenheit ausgestattet. Oder finden Sie, daß ich ihm damit zu nahe trete?« Camill Raff findet eher, daß Herr von Andergast durch seinen maliziösen Ton ihm selbst zu nahe tritt. Er erwidert, er könne dem nicht beistimmen, er habe niemals Verschlagenheit an Etzel wahrgenommen, etwas anderes wohl, einen auffallenden Scharfsinn oder Spürsinn, das wohl, eine Art Indianerinstinkt, wenn es gilt, verborgene Dinge oder Umstände ans Licht zu bringen. Im Odenwalder Heim ist einmal ein Fall vorgekommen, der die Ursache war, daß sie den damals Vierzehnjährigen den Sherlock Holmes in Taschenformat nannten. Es war da ein siebzehnjähriger Junge, Rosenau hieß er, Stubenkamerad von Etzel. Er war nicht sonderlich ästimiert, erstens als Jude, dann wegen seiner mißtrauischen Unfreundlichkeit und schließlich, weil er Verse machte. Da es schlechtes Zeug war, was er dichtete, lauer Aufguß nach berühmten Mustern, mit einem nicht angenehmen erotischen Einschlag zudem, war der Spott, mit dem ihn die Jungen verfolgten, nicht ganz unberechtigt. Aber das verbitterte ihn natürlich nur noch mehr. Im übrigen war er ein anständiger Kerl, an dem keine böse Ader war. Aber er war nun einmal verhaßt, dagegen ließ sich nichts tun, und die meisten wollten ihn loswerden oder ihm wenigstens den Aufenthalt im Heim verleiden. Eines Tages hielt einer der Lehrer Umfrage nach einem Buch aus der Anstaltsbibliothek. Man suchte eine Weile, da sagte jemand: der Rosenau wird es haben, er hat sich's zwar nicht ausgeliehen, aber er grapscht immer Bücher von den andern. Rosenau war nicht im Haus, man entschloß sich kurzerhand,

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