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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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seinen Schrank zu öffnen, der Schlüssel hing am Nagel, der Lehrer stöberte in den Fächern herum, öffnete eine Schublade und stand plötzlich kopfschüttelnd und mit finsterm Gesicht da. In der Lade lag ein halbes Dutzend Photographien obszönster Art, wie man sie sonst nur in Bordellen unter allerlei Vorsichtsmaßregeln zu sehen bekommt. Außer Rosenau war die ganze Kameradschaft im Zimmer anwesend, es war kurz vor der Essenszeit, alle waren Zeugen der abscheulichen Entdeckung, einige feixten und höhnten, doch Zorn und Verachtung herrschten vor. Während der Lehrer nach dem Anstaltsleiter schickte und ihn herunterbitten ließ, kam Rosenau. Man zitierte ihn vor den Schrank, wies ihm die Bilder. Etzel stand dicht neben ihm und hatte sofort den Eindruck: der Junge weiß nichts von der Geschichte, man hat ihm da was Niederträchtiges eingebrockt. Er brauchte nur Rosenaus Gesicht zu betrachten, um in seiner Überzeugung befestigt zu werden. Solch erschrockenes Erstaunen, solche Ratlosigkeit waren unmöglich zu erheucheln. Von den übrigen hatte niemand den geringsten Zweifel, die Beteuerungen Rosenaus wurden mit gehässigem Schweigen aufgenommen. Der Leiter der Anstalt war am Morgen nach Würzburg hinübergefahren und sollte erst anderntags zurückkehren; so wurden die scheußlichen Bilder einstweilen konfisziert, und Rosenau bekam bis zur Entscheidung über das, was mit ihm zu geschehen hatte, Stubenarrest. Sämtliche Knaben sonderten sich demonstrativ von ihm ab. Er hockte brütend, das Gesicht zwischen den Händen, in einem Winkel. Etzel hatte unterdessen eine ihm wichtig scheinende Beobachtung gemacht. Er hatte bemerkt, daß die Photographie, die zuoberst gelegen, blutbefleckt war. Das Blut war in einem dünnen Streifen über das ganze Blatt geronnen. Er fragte sich: woher kommt das Blut? Unauffällig näherte er sich Rosenaus Schrank, zog die Schublade heraus und sah, daß an der Innenwand dicht neben dem Schloß ein Nagel mit der Spitze hervorstand, ferner, daß auch der Boden der Lade blutig war. Er sagte sich: der die Bilder in die Lade getan hat, war in Eile und hat sich dabei an dem Nagel verletzt, er muß ziemlich viel Blut verloren haben, und man muß die Wunde noch sehen. Ein wenig später, die Stube war bereits leer, die Knaben waren beim Fußballspiel, ging er zu Rosenau hin und sagte: »Zeig mir deine Hände!« Der Knabe schaute ihn verdutzt an und gehorchte, hielt ihm die offenen Hände hin. Sie waren unverletzt. Da dachte Etzel lange nach. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt. Er erbat sich einen zweistündigen Urlaub, marschierte nach Amorbach, was ja nicht weit war, und kaufte einen Sack voll Haselnüsse. Gegen Abend, als alle wieder in der Stube versammelt waren, holte er seinen Sack hervor und verkündete, er wolle Nüsse verteilen, heut sollten einmal zur Unterhaltung Nüsse geknackt werden, das sei lustig und gebe einen Mordsspektakel, einer nach dem andern möge die Hände hinhalten, er werde jedem seine Portion zuteilen. Es geschah so, unter viel Gelächter. Beim neunten in der Reihe gewahrte Etzel die verwundete Hand, einen langen roten Kratzer an der Innenfläche, genau wie er es vermutet, denn außen an der Hand konnte sich die Wunde nach der Art, wie die Manipulation vor sich gegangen sein mußte, nicht befinden. Der Knabe mit der verwundeten Hand hieß Erich Fenchel, er war der Stubenälteste, war fast achtzehn und wegen seiner Brutalität und Rauflust gefürchtet. Er schaltete wie ein Tyrann mit den Jungen, hatte seine Günstlinge und seine Mißliebigen, Etzel nahm eine Zwischenstellung ein, an ihn traute sich Fenchel nicht recht heran, alle gingen ihm um den Bart, Etzel nicht; seit jener einmal prahlerisch erzählt hatte, er habe ein taubstummes Mädchen vergewaltigt, war ihm seine bloße Nähe ein Grausen. Er hätte auf Erich Fenchel raten können, aber er wollte Sicherheit haben und ließ sich auch jetzt nicht das geringste anmerken. Alle knackten aufgeräumt ihre Nüsse, und er tat mit. Als die Knaben zu Bett gegangen und die Lichter ausgelöscht waren, blieb er wach. Stundenlang lag er still da und wartete. Es mochte gegen ein Uhr nachts sein, da stand er leise auf, lauschte, überzeugte sich, daß alle fest schliefen, schlich sich zwischen den Betten durch zu Fenchels Schrank, der Schlüssel steckte, unter dem Schrank hatte er am Abend eine kleine Blendlaterne verborgen, die er zugleich mit den Nüssen in der Stadt gekauft; kaum mehr Geräusch machend als eine Maus fing er

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