Der Fall Maurizius
einen Spaziergang am Rheinufer gemacht. Er hat ihr von der Universitätsbibliothek aus ein Buch geschickt, in dem ein Brief gelegen ist. Sie hat am Mittwoch seine Vorlesung besucht, ist in der zweiten Reihe gesessen und hat ihn ununterbrochen angeschaut. Er ist, in einer Schneenacht, von elf bis halb zwei Uhr vor ihrem Haus auf und ab gegangen. Dann wieder: Sie ist im Garten der Villa gewesen, während Elli in der Stadt war, Leonhart ist hinuntergegangen, und sie haben, um die strohbedeckten Beete schreitend, einen heftigen Wortwechsel gehabt, wobei sie mit gesenktem Kopf nur geflüstert, er aber aufgeregt gestikuliert und bisweilen die Hände gerungen hat. Waremme hat ihn gestern im Wagen vom Kasino abgeholt, hinter der Pfarrkirche ist Anna eingestiegen. Das Dienstmädchen Frieda erzählt grinsend, das Fräulein Anna habe schon morgens um halb neun telephoniert, und sie habe ihr gesagt, die Herrschaft schlafe noch. Elli kann sich zu keiner Tätigkeit mehr aufraffen. Sie läßt im Haus sieben gerade sein, kümmert sich nicht um die Mahlzeiten, die Lieferanten bekommen wochenlang die Rechnungen nicht bezahlt. Den Vormittag über bleibt sie bei verhängten Fenstern im Bett; wenn sie endlich aufgestanden ist, erscheint sie, die früher so adrett, so sorgfältig auf ihr Äußeres bedacht war, übernächtig, unfrisiert, ein altes Tuch um die Schultern gewickelt, als friere sie bis auf die Knochen. Sie sitzt am Fenster, sitzt vor dem Ofen, sitzt und schaut ins Leere. In ihr Gesicht sind tiefe Runen gegraben, ihr Teint ist bleigrau; wenn sie ihr Bild im Spiegel erblickt, schaudert ihr. Kommt Leonhart nicht zu Tisch, so fängt sie an zu telephonieren, ruft seine Bekannten und Freunde an, erkundigt sich, ob er dort ist, ob sie wissen, wo er ist, schickt Frieda zu andern, die kein Telephon haben, in verschiedene Restaurants, ins Kasino. Natürlich erfährt er es, man macht sich über ihn lustig; Waremme prägt das Wort vom kühnen Ausreißer, der übers Schürzenband stolpert; zornig stellt er sie zur Rede; sie behauptet, es sei ihr bang gewesen, sie habe sich eingebildet, er liege irgendwo krank. Manchmal am Abend erträgt sie das Alleinsein nicht länger, stürzt aus dem Haus, kaum daß sie sich Zeit genommen, in einen Mantel zu schlüpfen, läuft in die Stadt, irrt sinnlos durch die Straßen, starrt fremde Leute auffallend an, verfolgt ein junges Paar, in dem sie Leonhart und Anna zu sehen vermeint, erregt bedenkliches Kopfschütteln bei den Passanten. Dann rast sie wie gehetzt wieder heim, wartet, wartet, wartet. Endlich kommt er, es ist Mitternacht, oft viel später noch, müde, wortkarg, scheu. Er wagt nicht, sich zurückzuziehen, ihr gebieterischer Anspruch auf seine Nähe macht ihn feig. Ist keine Vernunft mehr in ihr, daß sie sich demütigt, um seinen Blick bettelt, um eine geringe Zärtlichkeit bettelt, daß er die Hand in ihre legt, nur das, nur eine Minute lang? Wie ratlos sie ist, wie gänzlich verloren! Vor ihn hingekauert schluchzt sie in den Erdboden hinein; auf einmal geschieht das Gefürchtete, sie rast: In den Schlamm hast du mich gezogen, in die Gemeinheit, wo sind deine Versprechungen, was verheimlichst du mir, was hast du im Sinn? Und sie verflucht die Schwester und droht sich umzubringen, erst das verräterische Weibsbild, dann ihn, dann sich. Bilde dir nicht ein, daß du mit mir verfahren kannst wie mit den andern; ich bin keine, die sich abfinden läßt, bei mir geht's um alles, ums Leben, um die Ewigkeit, das hast du gewußt. Er, feig wie ein Hund, tröstet, beschwichtigt, leugnet, schwört, heuchelt Neigung, Freundschaft, Ergriffenheit, er kann nicht los, er kann nicht enden, er möchte ins Bett und schlafen, es ist ihm alles so verdrießlich, so zuwider, er zwingt sich zu einer lügenhaften Liebkosung, damit der Wahnsinn nicht ausbricht, wie er sich vor sich selbst entschuldigt, und sie: Töte mich, dann ist wenigstens Ruhe. Hat es nicht den Anschein, als habe dieses »Töte mich« in einer der finstern Stunden in ihm Wurzel gefaßt, als habe sie in seinen Augen den Wunsch gelesen, der schon vor ihrer verzweifelten Forderung in ihm war, und als stammten von daher die schrecklichen Ahnungen, deren Beute sie in der Folge ist, immer wenn das abgemüdete Herz einen Augenblick sich sammelt?
Nacht für Nacht die gleichen Szenen, fruchtloser, erbitterter, höllischer mit jedem Mal. Ihm graut vor seinem Haus, vor der Treppe, vor dem Licht. Einmal wirft er unterwegs den Schlüssel zum Gartentor in den
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