Der Fall Maurizius
Rhein und muß nachher über den Zaun klettern. Er weiß nun schon alles auswendig, die Worte, das Händeringen, die Tränen, die Erklärungen, zum Schluß das jammervolle Flehen, sie nicht allein im Zimmer zu lassen (sie schlafen jetzt nicht mehr beieinander), dann ihr ruhloses Wandern durch die Zimmer, wenn er sich endlich losgerissen, Veronal genommen hat und, von der unablässigen Furcht gepeinigt, einzuschlafen versucht. Bisweilen pocht sie noch einmal an seine Tür, als wolle sie sich versichern, daß er wirklich da ist. Man hat oft um vier Uhr morgens im Wohnzimmer der Eheleute noch die Lampen brennen sehen und ihre Stimmen gehört; in einer Nacht hat die Frau derartig aufgeschrien, daß der patrouillierende Schutzmann an der Villa läutete, um zu fragen, ob etwas passiert sei.
8
An einem Nachmittag geht Elli aus, spricht erst bei ihrer Schneiderin vor, nimmt hierauf in einer Konditorei den Tee, wozu sie zwei Gläser Kognak trinkt, und begibt sich dann in Annas Wohnung. Anna ist vor vierzehn Tagen umgezogen, sie hat eine elegante kleine Etage bei einer Majorswitwe gemietet; woher sie die Mittel dazu hat, ist nie erörtert noch aufgeklärt worden. Allerdings hat Gregor Waremme sie seit einigen Wochen als seine Sekretärin engagiert, sie arbeitet jeden Vormittag drei Stunden mit ihm; aber das reicht wohl kaum – bei ihren Ansprüchen – für Strümpfe und Schuhe, außerdem soll es nur für kurze Zeit sein. Es soll nämlich zu Ende des Monats eine sogenannte deutsche Tagung stattfinden, die hervorragendsten Vaterlandsfreunde sind zur Teilnahme aufgefordert worden. Waremme ist die Seele der Veranstaltung, die einen repräsentativen Charakter tragen soll; die Vorbereitungen, die Korrespondenz, die Beschaffung der notwendigen Fonds geben ihm viel zu tun. Er betreibt die ganze Angelegenheit mit um so größerem Nachdruck, als sich kürzlich wiederum eine neue Skandalgeschichte an seinen Namen geheftet hat, eine homosexuelle Affäre, in die einige junge Adelige eines vornehmen Korps verstrickt sind und die zu unterdrücken seine Gönner sich mit allen Kräften bemühen. (Es gelang ihnen aber doch nicht ganz, ein sozialistisches Blatt brachte, vorläufig ohne Namennennung, einen ziemlich alarmierenden Artikel; und man entschloß sich vorsichtigerweise, die Tagung auf den Herbst zu verschieben. Infolge der Ereignisse, die sich mittlerweile abgespielt hatten, unterblieb sie dann.)
Es ist schon bald Abend, im dunkelnden Zimmer wartet Elli auf die Schwester. Sie geht ruhlos auf und ab, manchmal hält sie inne, lauscht an der Tür, steht am Fenster, durchsucht die Papiere auf dem Schreibtisch, dann wieder auf und ab. Dann öffnet sie eine der Schreibtischladen; das erste, was ihr in die Hände fällt, ist eine Photographie Leonharts, die sie gar nicht kennt, unter der sie die Worte liest: »18. Mai 1905 sieben Uhr abends. Seit dieser Stunde weiß ich, daß ich eine unsterbliche Seele besitze. Leonhart.« Sie starrt auf das Bild. Sie lacht auf. In einem der letzten Briefe an die mehrmals erwähnte Freundin schreibt sie über den Moment: »Mir war, als hätt ich dort, wo meine Brüste sind, zwei tiefe wunde Löcher.« Ihr ganzer Körper wird von Lachen geschüttelt. Da tritt Anna ins Zimmer. Was tust du da, Elli? Die verhaßte rauhe, schwermütige Stimme. Elli reißt das Bild in vier Stücke und wirft sie Anna vor die Füße. Wie weit beabsichtigst du, die liederliche Komödie noch zu treiben! schreit sie ihr ins Gesicht. Entweder du oder ich, eine von uns beiden geht; und wenn ich's sein muß, weißt du, wohin ich geh, und du hast wenigstens ausgesorgt, und man kann dir zu deinem Kuhmagd-Gewissen gratulieren. Anna lehnt sich an die Wand, breitet die Arme mit einer Bewegung aus, als wolle sie sich an der Mauer festhalten, sie wird totenbleich und fällt zusammen. Ohne sich um sie zu kümmern, die wie eine Epileptikerin zuckend daliegt, will Elli sich entfernen. Aber sie hat noch nicht die Tür erreicht, da stehen Leonhart und Waremme vor ihr, beide im Smoking. Sie sind gekommen, um Anna abzuholen; ein Herr von dem Busche hat sie mit andern Freunden zum Diner ins Hotel geladen. Waremme tritt zu Anna, beugt sich zu ihr nieder, bemerkt die in Fetzen gerissene Photographie, erhebt sich kopfschüttelnd und wendet sich an Leonhart mit den Worten: Sie sehen, mein lieber Maurizius, daß Sie es so weit nicht kommen lassen durften. Zugleich gibt er ihm einen Wink, sich Annas anzunehmen; er selbst, sonderbar genug, geht auf Elli
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