Der Fall Maurizius
Fällen gebräuchlichen Liebenswürdigkeit abgewiesen worden ist. Am Abend noch fährt er im Auto auf das väterliche Gut. Den Wagen hat ihm, um die Verweigerung des Darlehens minder empfindlich zu machen, der junge Juwelierssohn zur Verfügung gestellt, an den er sich als letzten gewendet. In diesen Stunden muß sich alles in seinem Kopf verwirrt haben. Er kann es nicht mehr aushalten, ohne Anna zu sein, er lebt nicht, wenn er sie nicht sieht. Er hat ihr von Frankfurt aus ein Telegramm geschickt, sie hat nicht geantwortet. Jetzt, von unterwegs, telegraphiert er an Elli, meldet seine Ankunft für den folgenden Abend. Er will nach Hause, dort ist Anna, alles andere ist gleichgültig, auch die Katastrophe, die ihn erwartet, wenn er ohne Geld zurückkehrt. Um den Vater weich zu stimmen, erzählt er ihm ein halb Dutzend Lügen und Aufschneidereien, zum Beispiel: er sei im Begriff, nach Italien zu reisen, wolle eine Arbeit vollenden, die ihm den Professorentitel eintragen wird, habe sich vorher noch von ihm verabschieden wollen, und anderes mehr. Allein selbst er, bei seinem geringen Scharfblick und großem Eigendünkel, merkt schon beim dritten Satz, daß er bei dem Alten nichts erreichen wird, daß Bitten und Tränen nichts fruchten würden, ebensogut könnte er den Tisch zwischen ihnen versöhnlich stimmen. So ist ihm ein Weg um den andern verrammelt. Was bleibt übrig als die unsinnig schreckliche Tat, mit der die Gedanken schon manchmal feig und lüstern gespielt haben mögen? Er fährt in ein Hotel nach Königswinter, schickt das Auto zurück und schläft bis zum Mittag. Als er aufsteht, rasiert er sich den Schnurrbart ab, kauft sich einen langen gelben englischen Ulster mit hochaufstellbarem Kragen, telegraphiert abermals an Elli und widerruft das gestrige Telegramm: kann man deutlicher handeln? zielbewußter sich aus der Ratlosigkeit erheben? Allerdings behauptet er später, er habe zuerst Anna sprechen wollen, habe beabsichtigt, sie in den Garten rufen zu lassen, und damit sie ihn nicht sofort erkenne und die Unterredung verweigere, habe er sich unkenntlich gemacht, die abendliche Stunde würde ihn ja dabei begünstigt haben, er hätte ihr dann vorgeschlagen, noch in derselben Nacht mit ihm zu fliehen. Den Ulster zu kaufen, sei er genötigt gewesen, weil er nur den Sommermantel mitgehabt und das Wetter plötzlich kalt geworden war. Klägliche Erklärungen. Der Zusammenhang, gegliederte Kette, liegt offen zutage.
9
Was nicht hindert, daß in Herrn von Andergast Zweifel über Zweifel entstehen. Es ist ungefähr wie Selbstspaltung der kleinsten Teile. Die nämliche Konstruktion, deren Festigkeit, wie es ehemals geschienen, jedem Angriffe getrotzt, zeigt nun dem geschärften Blick überall Risse und Sprünge. Und sind es nur Erfahrung und Zeit, die das nachprüfende Auge geschärft haben, von Anwaltschaft und Parteinahme befreite Sachlichkeit? Sollte nicht da eine gewisse kleine Blendlaterne aus Amorbach in Funktion getreten sein, gar nicht Gleichnis, sondern ganz wirklich, ganz dinghaft greifbar, obschon von einer unsichtbaren Hand regiert? Sie läßt ihren grellen Schein auf die Gestalten und Vorgänge fallen, um sie in das noch unerforschte Dunkel zu verfolgen. Aber auch ein Paar Augen wirken mit, ein Paar sechzehnjährige frische, kühne Augen, dahinter ein Wille, der sich mitzuteilen weiß und dessen Unwiderstehlichkeit in umgekehrtem Verhältnis zur Entfernung seines körperlichen Trägers steht.
Das macht ja auch die Erscheinung so deutlich: Entfernung. Und zwar eine Entfernung, räumlich und zeitlich, auf die der eigene Wille keinen Einfluß mehr hat und die alles, was die Erinnerung aus ihr produziert, zur Zwangsvorstellung werden läßt. Da ist er nun wieder, mitten im Gewoge der Schattenfiguren, der braunlockige Knabe, fünfjährig etwa, im Matrosenanzug, Hände in den Hosentaschen, der Mund frech zum Pfeifen gespitzt, vor der Stiege stehend und über das Rätsel sinnierend, wie man hinuntergelangen könnte, ohne die Stufen zu benützen. Man sieht ihm an, daß er Stufen verachtet, er hat ja erst kürzlich seine Überzeugung verkündet, daß er fliegen kann, daß er dazu jedoch einer komplizierten Zauberformel bedarf, die man nur auszusprechen vermag, wenn man fünf Minuten in die Sonne geschaut hat, ohne mit den Augen zu zwinkern. Das probiert er jeden Tag einmal und ist äußerst ungeduldig, wenn es nicht gelingt, äußerst beschämt, wenn er behauptet, es sei gelungen, und ihm nachgewiesen wird, daß
Weitere Kostenlose Bücher