Der Fall Maurizius
er geschwindelt hat.
Herr von Andergast sieht folgendes Bild vor sich: Es ist ein Sonntagvormittag, er hat Etzel ins Liebigmuseum mitgenommen. Der Knabe steht vor einer antiken Venus und starrt sie mit eigentümlich erschrockenen, tief staunenden Augen an. Eine junge Dame geht auf Herrn von Andergast zu, um ihn zu begrüßen. Etzel richtet den verlorenen Blick auf sie, dann auf die Statue, dann wieder auf die lebendige Frau, dann sagt er, Herr von Andergast glaubt noch jedes Wort zu hören, in zögerndem Tonfall: Sehen alle Damen so aus, Papa, so wunderbar schön? Eine geheimnisvolle Angst ist in dieser Frage, die leuchtenden Augen können sie nicht verbergen, die Angst der Engel vielleicht, wenn Gottes ausgestreckter Arm auf die gehäufte Schuld der Kreaturen und auf den blut- und kummergedüngten Weg weist, der von irdischer Liebe durch den Tod hindurch zur himmlischen geht. Aber diese Erkenntnis oder Ahnung ist eben eine des Zweiten Gesichts und von heute, damals ging man darüber hinweg. Wie über alles schließlich. Die Lebensäußerung an sich ist ja so selbstverständlich. Wenn einer da ist, ist er eben da. Kindheit ist ein unvollkommener Zustand; ihn zu einem möglichst vollkommenen zu machen, ist die Sache der Eltern und der Lehrer. Der Vater ist was Überragendes, er hat die Weltgeschäfte zu besorgen, und das von ihm erzeugte Geschöpf hat nichts weiter zu tun, als ihn sich zum Muster zu nehmen und folgsam in seine Fußstapfen zu treten. Der einzelne Tag macht keinen Einschnitt, die Stunde lädt nicht zum Aufenthalt ein, sie müssen addiert werden, die Summen der Zahlenkolumnen bedeuten: Klassenaufstieg, Konfirmation, Semestralzeugnis, Jahreszeugnis, Examina; die Endsumme ergibt Inhalt und Wert des Lebens. Eine Rechenaufgabe.
Herr von Andergast entsinnt sich einer schweren Krankheit, die Etzel um sein achtes Jahr herum gehabt hat. An einem Abend, ziemlich spät, tritt er ins Kinderzimmer an das Bett des Knaben. Die Mutter ist um diese Zeit längst nicht mehr im Haus. Das Gesicht des Kindes ist hochrot, die Augen glühen, die Haare kleben schweißnaß an der Stirn. Vierzig Grad Fieber. Als Etzel des Vaters ansichtig wird, malt sich ein befremdlicher Schrecken in seinen Zügen, er wendet den Kopf weg und stammelt unverständliche Laute. Die Pflegerin sucht ihn zu beruhigen, streicht ihm mit der Hand über den Scheitel und sagt sanft: Schau doch, Büblein, es ist dein Papa. Aber das Kind bäumt sich, als solle es gezüchtigt werden, und seine trockenen Lippen lallen: Die Rie soll kommen. Man holt die Rie, sie kniet bei seinem Lager nieder und nimmt seine Händchen in ihre Hände. Da wird er still und flüstert nur: Ich will nicht sterben, hörst du, Rie, und sag's auch der Mama, ich will nicht sterben. In diesem »Ich will nicht« liegt eine so ungeheure Entschlossenheit, daß die Rie, entgegen ihrer sonstigen wehleidigen Art, mit tiefem Ernst erwidert: Das ist gut, Etzelein, wenn du nicht willst, wirst du auch nicht sterben; dann weißt du auch, daß wir dich brauchen. Wunderliche Närrin, denkt Herr von Andergast. Obschon er bewegt und in ernstlicher Sorge war, erschien ihm dieses Wort damals ebenso töricht wie unpassend. Man kann ein Kind lieben, selbst dann, wenn man ihm die Tatsache sorgfältig verhehlt (und hat »man« das Verhehlen nicht bis zu einem Punkt getrieben, wo von der Tatsache schließlich nicht mehr viel übrig war?), aber man kann ihm nicht sagen, daß man es brauche. Und man braucht es wohl auch nicht; man »braucht« Könige, Generäle, Offiziere, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Arbeiter, Dienstboten; aber Kinder müssen zur Brauchbarkeit erst erzogen werden.
Nein, von Liebe konnte wohl im ganzen nicht eigentlich gesprochen werden, kaum von einer der zahlreichen Abarten des Begriffs. Wie die Dinge heute sich gestaltet haben, in dem vollkommenen Zusammenbruch der sogenannten privaten Existenz, liegt kein Grund vor, sich darüber noch länger zu täuschen.
Er grübelt und grübelt, sucht und sucht . . .
Krankheiten wie jener Scharlach sind meist bedeutungsvolle Reifestationen in der Entwicklung eines Kindes. Herr von Andergast erinnert sich, daß er schon kurz nachher den Jungen in merkwürdiger Weise aus den Augen verloren hat. Das heißt, das Bewußtsein der gottähnlichen Herrschaftsgewalt über ein menschliches Wesen wurde unsicher und die befohlene Bewegung allmählich zur Eigenbewegung, beleidigend für das Selbstgefühl des Erziehers. Er hat Mühe, den Knaben zu
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