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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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gerechten Sühne überliefertes Verbrechen. Erst jetzt, als der Name Maurizius an sein Ohr schlug, wußte Herr von Andergast, daß er den Alten nicht deshalb zitiert hatte, um ihn »zu verwarnen« und bei der Gelegenheit einiges aus ihm herauszubekommen, worüber die Akten keine Klarheit gaben; das war der schwächere Antrieb; der wesentliche war, nach dem Jungen zu fragen, von Etzel zu hören, die sinnlose Unruhe zu verringern, die er sich, wie die Dinge lagen, nicht mehr ausreden, nicht mehr wegtäuschen konnte, und noch etwas anderes, Seltsameres, Unbequemeres: ein Verlangen, eine Leere, eine Unzufriedenheit, eine Ungeduld, etwas, das nagte und ritzte, als ob man an einem inneren Organ verletzt sei, von dessen Vorhandensein man bisher nichts gespürt hatte.
    Der Raum, in dem der Oberstaatsanwalt amtierte, war ein zweifenstriges Eckzimmer mit der Aussicht auf das Versorgungshaus und die Hammelstraße, in deren zehn oder zwölf Schenken Vorgeladene und Zeugen der unteren Klassen viele Stunden des Tages zechten und randalierten. An der braungetünchten Wand hinter dem Schreibtisch hing ein lebensgroßes Bismarckbild. Der niedrige Bücherständer enthielt die Gesetzes-Kommentare, einige Jahrgänge der Juristenzeitung und die Reichsgerichtsentscheidungen. Die peinliche Sauberkeit und Ordnung hob nur die Kahlheit stärker hervor, die beklemmende Nüchternheit und Trostlosigkeit. Man sah auf den ersten Blick, daß es hundert genau so nüchterne und trostlose Räume in diesem Haus und zwanzig- bis dreißigtausend in allen Städten des Landes gab. Sie prägen die Gesichter der Männer, die sich während eines großen Teils ihres Lebens darin aufhalten, sie hauchen ihnen ihre Nüchternheit und Trostlosigkeit ein.
    Der alte Maurizius blieb neben der Tür stehen, nachdem er sich tief verbeugt hatte. Er trug eine Art Jägerjoppe mit Hirschhornknöpfen. Im steifen linken Arm hielt er die unvermeidliche Kapitänsmütze. Herr von Andergast warf unter halbgesenkten Lidern einen schrägen Blick auf ihn, den Kriminalistenblick, der in einer Sekunde erfährt, was ihm ein langes Verhör unter Umständen vorenthält. Doch hier war die Ausbeute dürftig. Ein verwittertes, verkniffenes, eigensinniges, unbewegliches Greisengesicht. Gleichwohl war die mürrische Unempfindlichkeit des Alten nur beherrschte Verstellung. Hinter der äußeren Starrheit klopfte die Erwartung wie mit Eisenhämmern in seiner Brust. Ihn dünkte, daß endlich der große Wendepunkt gekommen sei. Wie war es anders möglich, wozu sonst die Vorladung, wozu die geheimnisvolle Sache mit dem Jungen? Er wagte kaum zu denken. Seit er den Zettel von der Oberstaatsanwaltschaft erhalten, hatte er nicht mehr gegessen und geschlafen, hatte seine Pfeife zu stopfen vergessen und, wenn er sie gestopft, vergessen anzuzünden. Da stand er nun, bereit zu hören, bereit zu reden. Aber er mißtraute seiner Zunge, er fürchtete das falsche, verfrühte, schädliche Wort. Es war ihm zumut, als stehe er nicht auf dem Fußboden, sondern in der Luft, und wenn er einen Schritt tat, müsse er hinstürzen. Faß dich, Mensch, sagte er immer wieder zu sich selber, auch der dort besteht aus Fleisch und Bein. »Ich habe Sie kommen lassen, um Ihren schriftlichen Tribulationen ein Ende zu machen. Nehmen Sie sich in acht, Sie können mal eklig hineinfallen.« Die Stimme klang kalt herüber. Da war noch nichts von einer Verheißung zu merken, nichts von Umstimmung. Nun ja, wir sind ja erst am Anfang. Die Herren Juristen, wenn sie nach Rom wollen, tun zunächst, als gingen sie nach Amsterdam. Maurizius verbeugte sich. Nichts weiter. Die Nasenwände drückten sich eng ans Nasenbein, die Nüstern wurden ganz konkav. Das majestätische Aussehen des Mannes am Schreibtisch schüchterte ihn maßlos ein. Er fühlte sich von dem Mann so abhängig wie eine Glocke von dem Querbalken, an dem sie baumelt. Er zitterte vor jedem neuen Wort, verriet aber nichts von seiner Angst, blickte nur starr hinüber, wie ein Steuermann auf das näher kommende Riff. Der Schicksalsgewaltige hatte einen Bleistift in der Hand und drehte ihn zwischen zwei Fingern beständig um und um, so daß die Spitze bald nach oben, bald nach unten zeigte. Das war eigentümlich, man hätte wissen müssen, warum er das machte, damit konnte er einen doch nicht schrecken wollen. »Ich möchte bei der Gelegenheit einige Fragen an Sie richten, mache Sie aber darauf aufmerksam, daß das Gespräch keinen amtlichen Charakter hat und beiderseits ganz

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