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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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ihn vorging und hätte sich hüten können. Das ist die Geschichte, Herr. Es ist um sein Leben gegangen, in jener Nacht, und sein Leben war mir nicht einmal dreitausend Mark wert. Bedenken Sie, was ein Leben wert ist. Bedenken Sie, hochgeehrter Herr, wie kostbar ein Leben ist. Läßt sich denn das beziffern? Dafür gibt es keinen Preis, so wenig, wie's für den Himmel einen Preis gibt, und mir war's um dreitausend Mark zu teuer.« Er warf die Hand vom Kopf herunter und legte sie, sich vorbeugend, mit einem lauten Schlag auf den Schreibtisch, unter die Augen des Herrn von Andergast, gleichsam als sichtbares Zeugnis und Opfer. Und als Herr von Andergast emporschaute, sah er, daß über das verwitterte Gesicht wasserhelle Tränen liefen.
    Er erhob sich mit einem Ruck, schritt durch das Zimmer und blieb am Fenster stehen. »Sie sehen die Dinge in einem falschen Licht«, sagte er mit brüchiger Stimme und ohne das Gesicht vom Fenster abzuwenden, »Sie haben sich den Tatbestand so zurechtgezimmert, mit der Wirklichkeit hat das nichts zu schaffen.« – »Ich weiß nicht, was das ist, die Wirklichkeit«, erwiderte der Alte finster. Dann, nach einer Pause stummen Grübelns, mit eingezogenem Kopf und niedergeschlagenen Blicken: »Herr Oberstaatsanwalt, helfen Sie mir.« Herr von Andergast drehte sich um und ging auf ihn zu. Die Schädeldecke des Alten reichte ihm genau bis zur Schulter, und er entdeckte mit Ekel die rote Beule. »Was haben Sie mit dem Jungen gemacht, mit meinem Sohn?« fragte er rauh. Maurizius blinzelte und schien auf einmal in sich zu versinken. »Der Junge ist von selber zu mir gekommen«, sagte er nach langem Schweigen. »Nachher war mir's immer, als hätt ich's bloß geträumt. Mein Lebtag hatt ich nicht Erscheinungen oder was man so nennt. Ich bin seit achtzehn Jahren im Grunde ein toter Mann und ganz drunten, wo glimmt bloß noch son Funke. Ich wollte aber sagen . . . folgendes wollt ich sagen: der Junge war mir wie eine Erscheinung. Mit dem gewöhnlichen Verstand ist das nicht auszudrücken, was das mit dem ist. Nun ja, wir unterhielten uns so, zweimal oder dreimal, glaub ich. Er interessierte sich für die Sache. Las auch alles, was ich ihm zusteckte, das Material. Eines Tages bekam ich den ganzen Pack zurück und dazu einen geschriebenen Zettel. Auf dem Zettel stand: ich geh jetzt fort, ich muß mit Gregor Waremme reden, wenn ich wiederkomme, wissen wir, ob ja oder nein. Kein Wort weiter. Ich hab ja so gelacht. Oder nein, eigentlich nicht gelacht. Du Engelsjungchen, hab ich mir gedacht, du Engelsnärrchen. Und es war ein wunderliches Gefühl dabei, so ungefähr: schön, Gottes Mühle mahlt endlich.«
    Herr von Andergast kehrte zum Fenster zurück. Er stand gegen das helle Rechteck wie ein schwarzer Rammpflock. »Sie wissen seinen Aufenthalt nicht?« – »Ich weiß ihn nicht, und was ich darüber vermute, möcht ich nicht sagen.« – »Warum das?« – »Es ist 'n Aberglaube, Herr Oberstaatsanwalt.«
    »Er hat Ihnen seitdem nicht geschrieben?« – »Nein, Herr Oberstaatsanwalt.« – »Und Sie wissen . . . oder wissen Sie es nicht, wo dieser . . . dieser Waremme sich aufhält?« – »Soll das, Herr Oberstaatsanwalt, als eine amtliche oder eine private Frage zu gelten haben, mit Verlaub?« – »Es ist . . . vorläufig . . . eine private Frage.« – »Dann, Herr Oberstaatsanwalt, weil ich nun den Aberglauben mal hab, möcht ich, mit Verlaub, die Frage vorläufig unbeantwortet lassen.« – »Es ist gut.«
    Das war Entlassung. Aber Maurizius rührte sich nicht. Herr von Andergast, mit dem nur ihm eigenen Ausdruck von gepreßtem Widerwillen, worunter sich Empfindungen verbergen konnten, die nicht an die Oberfläche dringen zu lassen er zur Genüge geübt war, warf hin: »Was die andere Sache betrifft . . . ich rate Ihnen, sich keinen Erwartungen hinzugeben. Man wird sehen.« Der Alte hob mit einer heißen Schreckensfreude den Blick. »Gewiß . . . ich . . .es versteht sich von selbst, daß man . . . was wäre denn im günstigsten Fall zu hoffen?« stotterte er heiser. – »Im günstigsten Fall? . . . man könnte schließlich die von Ihnen angesuchte Begnadigung befürworten.« Die Lautlosigkeit, mit der sich der Alte entfernte, hatte etwas Gespenstisches. Er fürchtete vielleicht, das Wort könne zurückgenommen werden, wenn er sich noch bemerkbar machte.
    Als Herr von Andergast eine Viertelstunde später die monumentale Steintreppe hinunterstieg, wobei er seinen Mantel fröstelnd zuknöpfte, war

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