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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Irrer, du hattest eine waschechte Intoxikationspsychose,
     so was hab ich noch nie erlebt. Du hast gebrüllt, bist aufgesprungen und den Flur langgerannt. Wahrscheinlich hast du halluziniert,
     jedenfalls bist du mit voller Wucht frontal gegen die Stahltür geknallt. Wir konnten dich nicht halten. Dabei hast du dir
     die Nase und den Unterkiefer gebrochen.«
    Katja verstummte; die eingetretene Stille war unangenehm,rauh und trocken wie Sandpapier. Sergej schloss die Augen.
    Die Geschichte mit der Allergie und der Psychose war komplett geschwindelt. Er erinnerte sich genau, wie Awanessow seine Beine
     untersucht und wie Katja ihm etwas gespritzt hatte – ein Kontrastmittel, wie sie sagte. Aber als er dann ins Vergessen sank,
     hatte er doch noch mitbekommen, dass es in Wirklichkeit ein starkes Schlafmittel gewesen war. Und zuvor hatte eine große schlanke
     Frau mit braunen Augen sein Gesicht untersucht.
    Doch dann fiel ihm ein, wie er nachts schweißgebadet aufgewacht, brüllend und mit den Armen fuchtelnd durchs Zimmer gerannt
     und erst von seinen eigenen Schreien aufgewacht war und vom Schmerz, als seine Faust auf etwas Hartes prallte, in dem er einen
     lebendigen, erbarmungslosen Feind vermutete hatte. Das war schließlich passiert, oder? Also konnte auch das passiert sein,
     was Katja eben so anschaulich geschildert hatte? Oder nicht?
    Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und hörte sofort: »Nicht anfassen! Da sind nur Binden, Nähte, nicht weiter interessant.
     Aber wenn wir das alles abnehmen, dann wird es spannend. Du wirst toll aussehen, du hast keine Ahnung …« Sie verstummte erschrocken,
     presste die Hand auf den Mund, sprang auf und lief zur Tür. Er stöhnte verzweifelt auf, und sie blieb stehen. »Was denn noch?«
    Er hob die Hand, legte die Finger zusammen und machte in der Luft eine Schreibbewegung.
    »Toll. Gute Idee.« Katja lachte nervös. »Du willst mir einen Brief schreiben?«
    Er nickte energisch, und von der heftigen Bewegung tat ihm das Gesicht weh. Katja blieb unentschlossen in der Tür stehen,
     zog dann einen abgeknabberten Bleistift und ein winziges Notizbuch mit Micky-Maus-Cover aus der Kitteltasche und kam zurück.
    »Wurde mein Äußeres verändert?«, schrieb er krakelig.
    Sie nickte wortlos, nahm ihm das Blatt aus der Hand, zerriss es in winzige Schnipsel und verließ rasch das Zimmer.

Elftes Kapitel
    Natalja Gerassimowa rief ihren Sohn mehrfach zu Hause und unter seiner Handynummer an, aber stets vergeblich. Das Handy war
     abgeschaltet, zu Hause ging niemand ran. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie die Stimme ihres Sohnes schon fast eine Woche lang
     nicht mehr gehört hatte. So viel Schreckliches war geschehen – die Sprengladung, der Mord an Georgi, diese seltsame Geschichte
     mit den Kreditkarten, und mit ihr, seiner Mutter, redete Stas überhaupt nicht. Er wusste, wie schlecht es ihr ging, dass sie
     sogar den Notarzt rufen mussten. Aber er hatte nicht ein einziges Mal angerufen. Nicht ein einziges Mal.
    Sie versuchte mit aller Kraft, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Sie verstand nur eines: Irgendwer
     wollte ihren Jungen töten, und in ihrem Kopf hämmerte unaufhörlich die Frage: Warum?
    Hilflos rekapitulierte Natalja vage Geschichten. Bevor der Vater extra für ihn bei seiner Bank eine Firma aufmachte, hatte
     Stas sich als selbständiger Geschäftsmann versucht und in eine seiner gewagten Manipulationen einen jungen Mann mit hineingezogen,
     der später in seinem Hausflur getötet wurde. Er hinterließ eine junge Frau, eine Nachbarin oder Freundin von Galina, der Enkelin
     von Maria. Und diese Witwe gab angeblich Stas die Schuld an ihrem Kummer. Die Menschen suchen immer einen Schuldigen – als
     würde ihnen davon leichter.
    Um sich ein wenig zu beruhigen, holte Natalja die Fotoalben aus der Kommode, öffnete das älteste aufs Geratewohlund erblickte schwarzweiße Hochzeitsfotos. Ein Mädchen in einem kurzen, ärmellosen weißen Kleid. Dünne Ärmchen, hochtoupiertes
     helles Haar unter einem durchsichtigen Nylonschleier, weiße Stöckelschuhe. Daneben ein hochaufgeschossener dünner Mann in
     Militäruniform. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Wladimir älter aussah als dreiundzwanzig. Sie dagegen wirkte wesentlich
     jünger als neunzehn. Die erwachsene Hochzeitskleidung von 1963 sah an ihr ein wenig lächerlich aus. Sie wirkte wie eine verkleidete
     Halbwüchsige.
    1963 hatten sie geheiratet. Und 1964 wurde Oberleutnant Wladimir

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