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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Gerassimow nach dem Studium an der KGB-Hochschule an die
     mongolische Grenze versetzt.
    Natalja hatte, ohne zu überlegen, das langweilige Studium am pädagogischen Institut hingeworfen und war ihrem Mann an die
     mongolische Grenze gefolgt.
    Sie sah aus wie eine Oberschülerin, trug zwei Zöpfe und einen Pony und amüsierte sich sehr, als zwei Frauen aus einem Ministerium
     im Zug von Moskau nach Abakan schweigend ihren schwangeren Bauch musterten, bis sie es schließlich nicht mehr aushielten und
     ihr einen Vortrag hielten über das moralische Antlitz einer sowjetischen Schülerin und Komsomolzin.
    Ein weiterer Reisegefährte, ein stiller, kranker alter Mann in einem Unterhemd mit gestopften Ellbogen, schwieg die ganze
     Zeit, ging immer wieder hinaus in den Gang, setzte sich auf den Klappsitz, rauchte und hustete dumpf. Natalja fiel auf, wie
     seltsam er die Papirossa hielt – zwischen Daumen und Zeigefinger, darüber die schützende Hand.
    Der Zug fuhr die Transsibirische Strecke entlang. Natalja hatte die Taiga noch nie gesehen und nicht geahnt, dass ein Wald
     so riesig und geheimnisvoll sein konnte. Die Bäume verschmolzen zu einem einzigen, undurchdringlichen Dunkel, das am hellichten
     Tag die Sonnenstrahlen schluckte undnachts den Himmel verdeckte. Der Zug erschien ihr wie ein einsames Raumschiff, das sich durch schaurige, stumme Unendlichkeit
     bewegte.
    Auf den seltenen Bahnstationen verkauften Omas mit Kopftüchern gekochte heiße Kartoffeln mit Dill und Salzgurken. Natalja
     aß sie gleich aus der Zeitung, mit den Händen, tunkte die Kartoffeln in ein Häufchen feuchtes Salz und trank anschließend
     süßen Eisenbahntee, dazu gab es dicke Kringel. Die beiden Ministeriumsfrauen hatten einen unerschöpflichen Vorrat an gebratenen
     Hühnchen, selbstgebackenen Piroggen und hartgekochten Eiern dabei. Sie aßen oft und ausgiebig. Einmal boten sie Natalja nach
     flüsternder Beratung eine Pirogge mit Kohl an. Sie lehnte ab.
    Der Alte ernährte sich von Schwarzbrot und Speck. Er kaute hastig, gierig, den Kopf tief gesenkt. Sein ganzes faltiges Gesicht
     war dabei in komischer Bewegung, die buschigen grauen Brauen bewegten sich auf und ab, die Augen huschten hin und her, als
     fürchte er, jemand könnte ihm das Essen wegnehmen. Einmal hörte Natalja, wie die beiden Frauen ihn einen Kriminellen nannten.
     Sie war neugierig, ob das stimmte. Sie hatte noch nie einen echten, leibhaftigen Kriminellen aus der Nähe gesehen. Sie ging
     hinaus in den Gang und setzte sich auf den Klappsitz neben dem Alten.
    Die kleine blasse Sonne folgte dem Zug und berührte die schwarzen Kiefernwipfel. Der Alte hustete schwer, seine Papirossa
     brannte nicht, und er zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Seine Hände zitterten, das Streichholz zerbrach, die
     Schachtel fiel zu Boden.
    Natalja hob sie auf und zündete ein Streichholz an. Als er die Papirossa anrauchte, bemerkte sie, dass ihm Tränen über die
     faltigen erdgrauen Wangen rannen.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Im Gegenteil, mir geht es sehr gut.« Er lächelte. Sämtliche Zähne waren aus Metall.
    »Und warum weinen Sie?«, fragte Natalja erstaunt.
    »Ich habe hier gesessen«, antwortete er, noch immer lächelnd.
    »Wofür?«
    »Die Begegnung an der Elbe, sagt dir das was?«
    »Natürlich. Da sind 1945 die Unseren mit den Alliierten zusammengetroffen, mit den Amerikanern und Engländern.«
    »Und dafür hab ich gesessen. Ich hab vor dem Krieg an der Leningrader Universität Englisch unterrichtet. In den vier Jahren
     im Schützengraben hab ich die Sprache so sehr vermisst, dass ich mich nicht beherrschen konnte und mit den Alliierten geplaudert
     hab. Dafür bekam ich fünfundzwanzig Jahre Lager – wegen Spionage.«
    »Haben die Sie angeworben?«, flüsterte Natalja nach einer qualvollen langen Pause.
    Der Alte lachte. Natalja fühlte sich unbehaglich und wollte ins Abteil zurückkehren. Plötzlich entdeckte sie am Waldrand,
     am Bahndamm, etwas Riesiges, Braunes. Mit fröhlichem Erschrecken erkannte sie, dass es ein Bär war.
    »Sieh mal, ein Streuner«, sagte der Alte heiser und zeigte aus dem Fenster.
    »Fressen die Menschen?«
    »Nicht unbedingt. Aber wenn so ein Tier einmal Menschenfleisch gekostet hat, dann bleibt es für immer ein Menschenfresser.
     Er reißt Menschen, vergäbt sie, wartet, bis das Fleisch verfault ist, dann buddelt er es aus und frisst es.«
    »Schrecklich …«
    »Das ist nicht schrecklich, Mädchen. Das ist die Natur. Aber

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