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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg
Autoren: Olivier Roy
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Jemen zum Umfeld der Schia. Die Schiiten unterstützten die Abbasidenkalifen. Eine persisch-schiitische Dynastie, die Buyiden, hatte beträchtlichen Einfluss im Herzen eines insgesamt sunnitisch gebliebenen Kalifats.
    Der Schiismus wurde erst zu einem geostrategischen Faktor, als er sich, beginnend mit der Safawiden-Dynastie (1501 - 1727), mit dem iranischen Reich identifizierte. Die vier Reiche, die sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert um den Großraum Mittlerer Osten stritten (Safawiden, Osmanen, Usbeken und die Moguln auf dem indischen Subkontinent) gehörten alle zum turko-persischen Kulturkreis. Die Safawiden waren Schiiten, die drei anderen Sunniten. Bereits die Safawiden schickten Missionare zu ihren Gegnern, insbesondere zu den Moguln, während die Osmanen sich ein Vergnügen daraus machten, den hohen schiitischen Klerus nach Nadschaf zurückzuholen, nachdem die Safawiden-Dynastie unter den Angriffen der Afghanen gestürzt war (die Afghanen kamen aus demselben Stammesverband der Ghilzai, aus dem zweihundertfünfzig Jahre später die Taliban hervorgingen). Die Grenze zwischen den beiden Einflusssphären wurde, wie wir gesehen haben, durch den Vertrag von Qasr-e Shirin 1639 fixiert. Auch der im 19. Jahrhundert festgelegte Grenzverlauf
zwischen Iran und Afghanistan markierte eine Trennlinie zwischen Schia und Sunna und nicht zwischen ethnisch-sprachlichen Gruppen.
    In geostrategischer Hinsicht hat der Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten keinen strukturellen Charakter. Er wirkt sich erst aus, wenn ein Akteur, also ein Reich oder ein Staat, auf die konfessionelle Karte setzt, um seinem aktuellen Gegner die Legitimität streitig zu machen.
    Die Schiiten sind überall in der Minderheit, außer im Iran. Sie haben nirgendwo die politische Macht und bilden zudem nur selten eine homogene Gruppe. Man findet sie ebenso in den internationalen geistlichen Netzen, die aus Nadschaf und Kerbela Ulemas in die Städte des gesamten Mittleren Ostens und auf den indischen Subkontinent entsenden, wie unter den Händlern und in den städtischen Mittelschichten; und auch in ländlichen Gemeinschaften (Südlibanon) oder in Stammesgemeinschaften (Südirak) sind sie vertreten. In den Städten ist es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen beiden Gruppierungen gekommen, vor allem am Rande des Aschura-Festes, jedoch ohne dass sich dies auf das Machtgleichgewicht ausgewirkt hätte. Als Gruppe beteiligten sich die Schiiten nicht an der Macht, die weiterhin in den Händen der Sunniten blieb, aber einzelne Schiiten ließen sich einbeziehen.
    Seit den sechziger Jahren erleben wir, dass die schiitischen Gemeinschaften ihre Identität neu entdecken. In allen Ländern mit einer starken schiitischen Minderheit (die demografisch in der Mehrheit sein kann wie im
Irak) tritt seit den siebziger Jahren verstärkt der Wunsch zutage, politisch mitzuwirken. Die Schiiten gehören eher der Landbevölkerung an (im Südlibanon, in der Bekaa-Ebene, im Pandschab, im afghanischen Hazaradschat, die Alewiten in Syrien) und wurden durch traditionelle Honoratioren vertreten, manchmal durch Stammesangehörige. Die städtische schiitische Elite war von der ländlichen Bevölkerung isoliert.
    Ab den siebziger Jahren war allenthalben zu beobachten, dass Mullahs, wie Mussa Sadr im Libanon, mit Unterstützung junger Intellektueller die etablierten Honoratioren verdrängten und die Einheit der schiitischen Gemeinschaft auf konfessioneller Basis betonten, beispielsweise mit der Forderung nach einem eigenen steuerlichen und rechtlichen Status entsprechend dem »dschafaritischen« Recht. Diese Bewegung ist älter als die islamische Revolution im Iran, die im Übrigen daran Anteil hatte, aber die Revolution von 1979 belebte sie neu und verlieh ihr vor allem Legitimität. Spaltungen und zuweilen Bürgerkriege zwischen Schiiten (wie in Afghanistan von 1983 bis 1986) führten bei diesen Gruppen und Milieus zu einem politischen Konfessionalismus.
    Die Hisbollah ist ein gutes Beispiel dafür, wie komplex das konfessionelle Erscheinungsbild einer Gruppe sein kann. In ihr findet und artikuliert sich zunächst ein großer Teil der schiitischen Bevölkerung im Libanon, die traditionell an den Rand gedrängt wurde. In diesem Sinne ist die Hisbollah die Partei einer bestimmten Gruppe. Aber dann positionierte sie sich als nationalistische
libanesische Partei, die den Kampf gegen die israelische Besetzung forderte und Anspruch auf die berühmten Shebaa-Farmen erhob. Und schließlich,
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