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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg
Autoren: Olivier Roy
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einem Schlüsselelement der muslimischen Welt vom Mittelmeer bis zum Indus geworden. Der Maghreb, Südostasien und Zentralasien haben mit der neuen Spaltung nichts zu tun, denn dort gibt es kaum Schiiten.
Schiiten und Sunniten im Nahen Osten: das neue Kräfteverhältnis
    Zwei Ereignisse haben die Kräfteverhältnisse zwischen Schiiten und Sunniten von Grund auf verändert: die islamische Revolution im Iran und die amerikanische Militärintervention im Irak 2003. Der schiitische Vormarsch, der die islamische Revolution im Iran begleitete und den die Revolution instrumentalisierte, geriet Ende der achtziger Jahre ins Stocken; er wurde durch die arabischen sunnitischen Staaten begrenzt und kontrolliert. Der Iran hatte den Krieg gegen den Irak praktisch verloren, und der Irak hatte seine Rolle als Schutzwall für den arabischen Mittleren Osten gegen die iranischen Ambitionen unter Beweis gestellt. Die mit dem Iran verbündete libanesische Hisbollah sah ihren Status durch die Abkommen von Taif über den Libanon (1989) anerkannt. Aber die eigentliche Macht in Beirut teilten sich weiterhin die Christen und die Sunniten - unter der widersprüchlichen Schirmherrschaft Syriens, der westlichen Länder und Saudi-Arabiens.
    Die Golfstaaten Bahrain, Kuwait und Saudi-Arabien öffneten in den neunziger Jahren nach einem Jahrzehnt
der Spannungen und antischiitischen Repressionen allmählich und kontrolliert den politischen Raum für ihre schiitischen Bürger. Syrien, dessen Regime aus einer dem Schiismus nahestehenden Sekte entstanden ist, spielte offiziell immer die Karte des arabischen Nationalismus gegen Israel und den Westen aus. In Afghanistan waren die Schiiten zu weit weg vom Iran, sie arrangierten sich 1992 mit der Nordallianz von Kommandant Massud und beteiligten sich 2002 an der von den Vereinigten Staaten unterstützten Regierung Karsai. In Pakistan haben die Schiiten in Ermangelung einer territorialen Basis noch nie eine Rolle auf nationaler Ebene gespielt. Und schließlich profitierten im Jemen die Saiditen (auch sie gehören zum schiitischen Umfeld, ohne mit dem Iran verbunden zu sein) von saudischer Unterstützung gegen die liberaleren, sogar sozialistischen Sunniten im Süden des Landes, dem ehemaligen Südjemen. Die Saiditen werden im Übrigen von salafistischen Bewegungen in die Mangel genommen, die von saudischen Wahhabiten beeinflusst sind: ein ganz und gar einmaliger Fall einer »Sunnitisierung« von Schiiten. 7
    Dieses prekäre Gleichgewicht der neunziger Jahre, im Rahmen dessen die Wirkung der iranischen Revolution von allen Seiten verdaut werden konnte, wurde durch die amerikanische Militärintervention im Irak erschüttert. Nach 2003 hat im Irak wie auch im Libanon eine Neuordnung der Zentralmacht um die Schiiten stattgefunden. Der sunnitische Irak ist verschwunden, aber es ist nicht sicher, dass unter dem Einfluss der Schiiten ein stabiler Zentralstaat entstehen wird.

    Im Libanon schuf der nationale Pakt von 1943 ein konfessionelles Gleichgewicht zwischen den Machthabenden, das vor allem den Christen und den Sunniten zum Vorteil gereichte. Sie hatten das Präsidentenamt und das Amt des Premierministers inne, während den Schiiten nur das symbolische Amt des Präsidenten der Nationalversammlung blieb. Der Machtzuwachs der Hisbollah erreichte seinen Höhepunkt nach dem kurzen Krieg mit Israel im Juli 2006. Die Hisbollah will nicht mehr und nicht weniger als die Revision des Vertrags von 1943, aber zu ihren Gunsten oder vielmehr zugunsten einer neuen Allianz von Schiiten und Christen. Daher die Annäherung des Maroniten-Generals Aoun an die Hisbollah. Die Verlierer beim Aufstieg der Hisbollah sind weniger die Christen, die sich - nicht zuletzt aus demografischen Gründen - sowieso im Niedergang befinden, sondern vor allem die Sunniten. Es ist klar, dass das Modell, das der Hisbollah vorschwebt, sich eher an Mali orientiert als am Iran: Die Christen gelten nicht als dhimmis (»Geschützte«), sondern als Staatsbürger, die über ein eigenes Rechtssystem verfügen (daher müssen die Frauen keinen Schleier tragen). Die Sunniten hingegen müssen sich durchaus nach den Schiiten richten, und zwar weil sie Muslime sind.
    In Syrien liegt die politische Macht in den Händen einer nicht-sunnitischen Gruppe, der Alewiten, die sich entweder als Schiiten oder als mit dem Iran verbündet definieren. Die Charidjiten im Oman, die historisch gesehen nichts mit den Schiiten zu tun haben (denn sie distanzieren sich von Ali, der
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