Der falsche Mann
frag sie.« Ich drehte mich zu Tori. » Joel fragt, ob wir heute miteinander schlafen werden.«
» Nein«, sagte sie.
» Sie sagt, Nein.« Ich lauschte und blickte dann erneut zu Tori. » Er fragt, wenn ich nicht bei dir landen kann, ob er dann vielleicht einspringen soll?«
Tori lachte.
» Sie fand das lustig, Lightner. Bei der Vorstellung, mit dir zu schlafen, hat sie sogar gelacht. Okay, mach’s gut.«
Ich beendete das Gespräch. » Unter der rauen Schale steckt ein knuddeliger Teddybär«, sagte ich.
» Ich weiß. Ich mag Joel.«
» Ich meinte eigentlich mich.« Ich fuhr an den Straßenrand. Tori lebte in einem Hochhaus auf der Near North Side etwa zehn Blocks südöstlich von mir. Ihr Apartment, in dem ich nie gewesen war, befand sich im achtzehnten Stockwerk und bot vermutlich eine atemberaubende Aussicht und so viel Wohnfläche wie ein Schuhschrank.
Tori wandte sich erneut zu mir. » Oh, ich hab dich durchschaut, Kolarich.«
Ich stellte den Motor aus. » Inwiefern?«
» Du bist ein Gutmensch. Ein Kreuzritter.«
» Gott bewahre!«
» Gott bewahre? Du behauptest, du magst den Wettstreit. Die Herausforderung. Das hast du gesagt. Aber ich kaufe es dir nicht ab.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf mich. » Ich möchte dir eine Frage stellen. Wie viel kriegst du für diesen Fall bezahlt?«
» Einspruch«, sagte ich. » Irrelevant.«
» Irrelevant. Du kriegst keinen müden Dollar, richtig?«
Diese Lady blickte viel zu tief. Langsam wurde es gefährlich.
» Tante Deidre hat im Moment selbst genug Probleme«, sagte ich. » Ihr Mann ist behindert. Sie kann kaum die monatlichen Raten fürs Auto zusammenkratzen. Und Tom hat auch nicht gerade ein Händchen für Geld.«
» Hey, das sollte keine Kritik sein. Ich finde das sehr nobel. Du mobilisierst all diese Ressourcen und kriegst nichts dafür zurück. Du reißt dir für einen Klienten den Arsch auf, der dich nicht bezahlt. Stattdessen verlierst du sogar noch Geld – und deinen Verstand obendrein.«
Ich seufzte. » Bleibt mir immer noch meine Gesundheit.«
Aber sie ließ sich nicht mit klugscheißerischen Repliken abspeisen, diesmal nicht. Sie fixierte mich unverwandt. Bei dem gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht rechnete ich jeden Augenblick mit Tränen. Aber Tränen waren nicht Toris Ding, zumindest soweit ich das bisher beurteilen konnte. Sie hatte eine undurchdringliche Mauer zwischen sich und dem Schmerz errichtet, woher auch immer dieser Schmerz stammen mochte.
Trotzdem nahm sie Anteil an der inneren Spannung in mir. Diese Mathematikstudentin, die sich den ganzen Tag mit unpersönlichen Zahlen, Gleichungen und Axiomen beschäftigte, hatte eine gewisse Leidenschaft für diesen Kriminalfall entwickelt. Und langsam gewann ich den Eindruck, dass sie vielleicht auch eine gewisse Leidenschaft für mich entwickelte.
» Du bist anders, als ich erwartet hatte«, sagte sie.
Darauf hatte ich diverse clevere Antworten in petto. Das war mein Markenzeichen, richtig? Alles ist ein Witz. Aber ich wollte ihr aufrichtig antworten. Ich wollte mit ihr reden. Ich wollte herausfinden, warum sie erst mit siebenundzwanzig ans College gegangen und was vorher geschehen war. Was hatte für den Neuanfang in ihrem Leben gesorgt, und welche Hoffnung trieb sie an unter dieser verschlossenen Fassade?
Doch bevor ich etwas sagen konnte, stieß sie die Tür auf und stieg aus.
***
Peter Ramini beobachtete das Ganze von seinem Wagen aus, der gegenüber dem Hochhaus geparkt war. Er hatte Kolarich heute Abend nicht verfolgen müssen. Er wusste, wo die junge Frau wohnte – kannte ihre Adresse und ihre Apartmentnummer, 1806 –, und er war davon ausgegangen, dass Kolarich heute mit ihr dort landen würde.
Aber Kolarich ging nicht mit hinein. Sie stieg alleine aus dem Wagen und lief die Rampe zu ihrem Apartmenthaus hinauf. Kolarichs SUV fuhr hinaus in die Nacht.
Ramini hustete und räusperte sich. Er war nicht scharf auf das, was jetzt kommen würde. Aber die Instruktionen, die er von Paulie via Donnie erhalten hatte, waren eindeutig.
Warum war das alles nur so kompliziert geworden?
42
Tom Stoller verschlang glücklich eine große Portion Truthahn mit Kartoffelbrei, Erbsenpüree und brauner Soße. Tante Deidre schenkte ihrem Essen kaum Beachtung, ihr Vergnügen resultierte hauptsächlich aus dem Toms.
Wir saßen im Besucherraum. Deidre hatte die Wachleute während des elfmonatigen Aufenthalt Toms beständig bezirzt, und als sie die zu erwartenden üppigen Reste ihres
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