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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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kannst.«
    Verlegenheit und ein schlechtes Gewissen setzten mir zu – und zogen beide wieder ab.
    »Und du brauchst wirklich keine Hilfe?«, versicherte ich mich noch einmal.
    »Also, falls du unbedingt darauf bestehen solltest …« Vika ließ den Satz unvollendet. »Na los, geh schon, die Kartoffeln kann ich auch allein schälen.«
    »Mhm.« Ich schlüpfte aus der Küche. Den Timer auf eine halbe Stunde. Damit ich anschließend den Tisch decken konnte.
    Der Computer erwachte zum Leben, kaum dass ich die Maus berührte. Noch ehe er bereit war, stand ich schon im Sensoranzug da, hatte ich das Kabel in die Schnittstelle am Gürtel gesteckt und den Helm aufgesetzt.
    Meine Finger glitten über die Tastatur.
    Deep.
    Enter.
    Der wahnsinnige Regenbogen, dieses Zufallsprodukt von Dima Dibenko, lodert auf den Displays des VR-Helms auf.
    Das Deep-Programm, jene chaotische Farbenpracht, all die aufflammenden und erlöschenden Sterne und regenbogenfarbenen Tropfen, die sich über die Displays ausbreiten wie Benzinspritzer auf Wasser – dieses Programm ist der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen. Ohne das ist die Tiefe tot. Erst dieses Programm verwandelt die gepixelte virtuelle Welt in eine erkennbare und authentische Realität. Bislang kann niemand erklären, wie die bunten Kleckse auf den Displays das Bewusstsein und das Unterbewusstsein manipulieren, warum das Deep-Programm auf jedem Rechner und mit fast jeder Grafikkarte läuft und warum sich die Details, welche die Menschen sich dazudenken, bei allen Altersgruppen und Kulturen sowie bei beiden Geschlechtern so ähneln. Tausende von Monografien und populärwissenschaftlichen Werken sind bereits zu dem Thema veröffentlicht worden, in Zeitungen und Magazinen erscheinen regelmäßig Artikel, an den Universitäten und in Geheimlabors wurden und werden entsprechende Experimente durchgeführt …
    Alles umsonst. Es gibt das Deep-Programm – und das funktioniert. Und es gibt Programme, die praktisch identische Bilder auf den Monitor bringen, bei denen aber rein gar nichts passiert. Ebenso wenig wie irgendjemand erklären kann, warum das
Deep-Programm, das auf dem Sehvermögen basiert, tadellos bei Farbblinden wirkt, während es bei Leuten, die von Geburt an taub sind, völlig versagt.
    Die Tiefe …
     
    Der erste Moment ist immer der schwierigste. Ich stehe vom Stuhl auf, wobei meine Bewegungsfreiheit schon nicht mehr durch die Kabel eingeschränkt wird. Ein Blick nach links, nach rechts …
    Ich befinde mich in einem Zimmer in einem billigen Hotel, oder, warum drumherum reden: in einer Absteige aus Sowjetzeiten. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Schrank. Ein Tisch mit dem Computer drauf, dazu ein Drehstuhl, das einzige Detail, das nicht zum spartanischen Gesamtbild passt. An der Tür ist ein Briefkasten angebracht, daneben in weiser Voraussicht ein Papierkorb aufgestellt. Durch das Fenster schaue ich auf eine leere und öde Gasse.
    »Hallo«, sage ich.
    Die Tiefe schweigt. Egal. Wer würde ihr das denn krummnehmen?
    Warum bin ich hier? Ausgerechnet jetzt? Während Vika, die gerade von der Arbeit gekommen ist, in der Küche hantiert, um das Essen für unsere Gäste vorzubereiten, die übrigens wirklich unsere Gäste sind, nicht nur ihre. Wenn ich nur eine halbe Stunde habe … Scheiße! Ich habe vergessen, den Timer einzustellen!
    Und Vika ist davon ausgegangen, dass ich ihr helfe. Als ich ihr vorhin mit dieser Floskel meine Hilfe angeboten habe, hat sie abgelehnt, okay, aber eigentlich hat sie eben doch damit gerechnet. Zuzugeben, dass du dich wie ein Schwein benommen hast, tut weh. Doch inzwischen kenne ich diesen Schmerz schon. Er ist süß und ekelhaft, wie das Leiden eines Masos.
    »Eine halbe Stunde«, gebe ich mir selbst einen Befehl. »Nein, eine Viertelstunde.«
    Ich öffne den Briefkasten und gehe die eingegangene Post durch. Ein Dutzend Werbezettel, ein Packen Zeitungen, drei Briefe. Nichts Wichtiges.
    Warum verdammt noch mal bin ich überhaupt in die Tiefe gegangen?
    Um zu arbeiten?
    Quatsch! Dazu ist die Zeit viel zu knapp.
    Um meinen Fisch zu essen?
    Wozu das, wenn bei mir zu Hause richtiges Fleisch in der Pfanne brutzelt?
    Um mit jemandem zu reden?
    Aber mit wem? Und vor allem: worüber?
    Mit einem Mal fällt mir auf, dass ich mitten im Zimmer stehe, mir auf die Lippe beiße und die Post anstiere, die ich in den Papierkorb geworfen habe.
    Was hat mich in die Tiefe gezogen?
    Erbarme dich, o Herr, der Seele …
    In der Tiefe stirbst du nicht. Okay, es kann zu allen

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