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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Vika.
    »Ist mir noch nicht zu Ohren gekommen. Abgesehen davon sind für einen Faulpelz wie mich die eigenen Zähne immer näher als Messer oder eine Schere.«
    Da klingelte es an der Wohnungstür.
    »Beeil dich, ich öffne derweil.« Vika stürzte aus dem Schlafzimmer, warf mir dabei aber noch zu: »Und denk daran, frische Socken anzuziehen!«
    »Und vergiss nicht, dir die Ohren zu waschen«, flüsterte ich, während ich mich in die steifen, noch nicht eingetragenen Jeans zwängte. Und wo zum Teufel steckte dieses Hemd? Das Ding mochte ich überhaupt nicht, aber wenn ich es nicht anzog, beleidigte ich damit meine Schwiegermutter und damit auch Vika, und das hieß …
    Egal, wodurch ein Verhalten ausgelöst wird, es zieht eine ganze Kette von Folgen nach sich. Welche Konsequenzen genau – das hängt weniger davon ab, was du tust, als vielmehr davon, wie dein Gegenüber zu dir steht.
    »Vielen Dank, Andrej«, hörte ich Vikas Stimme aus dem Flur. Ich knöpfte das Hemd zu. Der Kragen war zu eng, aber vielleicht stand es mir ja wirklich.
    Andrej Nedossilows Antwort war kaum zu hören. Er sprach immer leise und mit weicher Stimme.
    »Hast du es gleich gefunden?«, erkundigte sich Vika, denn Andrej besuchte uns zum ersten Mal.
    »Wenn sich hier einer verlaufen hat, dann ich«, flüsterte ich. »Und zwar in mir selbst.«
    »Ljonka!«
    »Ich komme schon!« Ich stopfte das Hemd in die Jeans und ging in den Flur.
    Früher mochte ich Andrej Nedossilow sehr. Er war Psychologe, ein Kollege von Vika, und erforschte die Tiefe sowie alle Phänomene, die mit ihr einhergingen. Aber heute … Heute war ich mir da nicht mehr sicher.
    »Guten Tag, Leonid.« Andrej begrüßte mich, als hätten wir uns erst vor ein paar Stunden voneinander verabschiedet, nicht vor einem Jahr, auf dem Bahnhof in Petersburg, als wir nach Moskau umgezogen waren. In einer Hand hielt er eine in Zellophan verpackte Rose, in der anderen eine Flasche mit irgendeinem Likör.
    »Hast du es gleich gefunden?«, wiederholte ich Vikas Frage.
    »War gar kein Problem. Schön habt ihr’s.« Er ließ seinen Blick anerkennend durch den Flur schweifen. »Da spürt man gleich die Gemütlichkeit und Wärme einer Familie.«
    Andrej war zwar groß, dabei aber recht korpulent. Typen wie ihn stellst du dir ohne Weiteres in einem Ohrensessel oder am Rednerpult vor einem kleinlauten Auditorium vor, bringst sie aber auf gar keinen Fall mit einem Steuerruder oder einem Presslufthammer in Zusammenhang. Außerdem flößt er einem bestürzend schnell Vertrauen und Respekt ein, dafür reichten ihm wenige Worte und seine leise, selbstsichere Stimme.
    »Komm rein«, forderte ich ihn auf. »Du bist allein?«
    »Meine Kollegen wurden aufgehalten.« Andrej fuhr sich mit einer seltsamen Geste übers Gesicht, als wollte er eine nicht vorhandene Brille hochschieben. Aus ebensolchen Details setzte sich sein Image zusammen, aus dem verschmitzten Zwinkern Lenins, dem gewinnenden Lächeln Gagarins und der unterschwelligen Melancholie Leonows. Jeder nicht-standardisierte Mensch
legt sich nun mal, ob bewusst oder nicht, bestimmte Charakteristika wie Gestik, Mimik oder Intonation zu. Die trägt er dann wie ein Banner des eigenen Charmes vor sich her.
    »Wie war der Kongress?«, wollte Vika wissen, als sie ihm die Rose und die Flasche abnahm. »Ljonka, bringst du mir mal die Vase, die hohe …«
    »Ausgesprochen anregend.« Nedossilow legte ab – das Wort »ausziehen« verbot sich bei ihm geradezu. »Vitja Archontow hat einen interessanten Vortrag gehalten …«
    Während ich nach der Vase suchte, lauschte ich mit halbem Ohr dem Bericht vom Kongress.
    »Mark Petrowski klebt noch immer an seinem Thema … obwohl ich fürchte, dass er im Laufe des letzten Jahres nichts Neues entdeckt hat. Allerdings hat er eine faszinierende Statistik aufgestellt …«
    Die Vase war eingestaubt. Wann hatte ich Vika eigentlich das letzte Mal Blumen geschenkt? Zum Frauentag am 8. März? Nein, später auch noch mal, im Sommer. Da war ich aus unserem Eckladen gekommen, davor hatte eine Alte Gladiolen verkauft, von ihrer Datscha und nicht teuer.
    »Bagrjanow und Bogorodski haben solide Arbeit geleistet. Die Ergebnisse sind zwar noch schwer einzuschätzen, aber auf alle Fälle vielversprechend.«
    Ich wischte geistesabwesend den Staub vom Vasenhals. Eine Weinflasche darf sich was auf ihre Staubschicht einbilden, nicht aber eine Blumenvase.
    »Plotnikow reitet noch immer sein Steckenpferd. Viele kritisieren ihn, meiner

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