Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
möglichen Unfällen kommen. Ein schwaches Herz setzt vielleicht angesichts der Belastung aus. Wenn jemand auf die geniale Idee kommt, die Sicherheitsvorkehrungen auszuschalten, kann er sich selbst bei einer fiktiven Wunde einen Schmerzschock holen. Aber das dürfte bei einem keineswegs untalentierten Hacker ausscheiden.
Bleibt die Frage, warum ich mich an dieser Geschichte so festbeiße.
Ein Hacker dringt in eine gut geschützte Firma ein. Er fliegt auf und stirbt in der Tiefe . Doch dann stirbt er auch in der realen Welt … Vielleicht haben ihn ja irgendwelche angeheuerten Schläger extrem schnell gefunden und direkt an der Kiste erledigt, noch in Helm und Sensoranzug. Ja, so muss es gewesen sein. Er
ist nicht der Erste und nicht der Letzte, der für seine virtuellen Sünden von höchst realen Glatzköpfen eins vor den Latz gekriegt hat.
Trotzdem gibt es da noch was, das mir keine Ruhe lässt …
Ich öffne die Tür, trete in den Gang des Hotels hinaus und sehe mich um. Der graue, unscheinbare Körper des Bikers taugt nur für schnelles Fortkommen im Straßenverkehr. Jetzt brauche ich etwas anderes.
Falls ich es denn brauche …
Ich stehe gegen die Wand gelehnt da, die in tristem Grün gestrichen ist. Solche Farbe haben die Klos in billigen Wohnsilos. Der Anstrich zeigt Nasen, hier und da blättert er auch ab. Die Glühbirnen unter der Decke sind trüb und staubig. Das Hotel hat schon bessere Zeiten gesehen, denn die meisten User begeben sich heute von ihrer eigenen Wohnung aus in die virtuelle Welt, nicht mehr von einem Schweinestall wie diesem aus.
Warum tu ich mir das an?
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Ich drehe mich um. Der Concierge der Etage hat sich lautlos genähert. Trotzdem gab es einmal Zeiten, da hätte ich ihn bemerkt …
»Doch, es ist alles in Ordnung.«
Er sieht absolut standardmäßig aus, Typ »aufmerksamer Beamter«. Auf der Arbeit darfst du zwar in einem selbstdesignten Avatar erscheinen, viele bevorzugen aber dennoch eine Standardausführung, vor allem wenn der Job stinklangweilig und blödsinnig ist. Zum Beispiel der eines Möbelpackers, Verkäufers oder Hotelangestellten.
»Sind Sie das erste Mal in der Tiefe ? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke, es ist wirklich alles okay.«
Daraufhin gibt er sich zufrieden und zieht mit einem Nicken ab. Es gehört sich nicht, die Gäste zu nerven, zumindest das hat das Hotelpersonal inzwischen begriffen.
Mich zum nächsten Schritt aufzuraffen fällt mir schwer. Extrem schwer. Trotzdem stapfe ich den Gang hinunter, wobei ich die Nummern, die schief an den Türen befestigt sind, im Blick behalte.
Da! 2008.
Ich ziehe vorsichtig an der Klinke – und wundere mich überhaupt nicht, dass nicht abgeschlossen ist, frei nach dem Motto, bitte einzutreten und es sich bequem zu machen.
Aber was hatte ich denn erwartet? Dass mir das Hotel ein Zimmer, für das ich schon seit einem Jahr nicht mehr zahle, frei hält?
Weiter!
2017.
Die Tür ist abgeschlossen.
Das heißt noch gar nichts. Ich habe es zwar fünf Jahre im Voraus bezahlt – aber mit einer gefälschten Kreditkarte. Vielleicht ist das Hotel also längst dahintergekommen, dass es das Geld für dieses Zimmer von seinem eigenen Konto abbucht.
In dem Fall hat also möglicherweise gerade ein anderer User das Zimmer gemietet. Oder das Hotel hat die Polizei eingeschaltet – und ich bräuchte nur die Tür aufzumachen, und schon würde ich in die Falle tappen.
Während ich diese Möglichkeiten in Gedanken durchspiele, machen sich meine Hände selbstständig. Sie tasten nach der Tür, schieben die Abdeckung über dem Zahlenschloss zur Seite und wandern über die Tasten.
Ein Code aus zwölf Ziffern. Ich erinnere mich nicht mal an ihn, aber meine Finger schon. Ganz kurz zögere ich noch, dann drücke ich auf Enter.
Im Schloss knackt es, die Tür öffnet sich.
Der Raum sieht fast genauso aus wie jenes Zimmer, das ich zurzeit im Hotel benutze. Nur das Bild an der Wand durchbricht
die billige Standardgemütlichkeit. Das ist nämlich nicht die übliche Reproduktion alter Meister, die in der Tiefe so gern an die Wände gepappt wird. Kein Aiwasowski, Schischkin oder Dalì.
Ich stehe an der Schwelle und kämpfe mit meinen Gefühlen. Irgendwo in meiner Brust tickt erbarmungslos ein Metronom.
Ist das ein Hinterhalt? Oder ist das Zimmer sauber?
Das Polizeirevier liegt genau gegenüber dem Hotel. Ein, zwei Minuten – mehr bräuchten die nicht, um hier zu sein.
Im Gang ist nach wie vor alles ruhig und
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