Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
virtuellen Welt auftauchen, diese Gabe zeichnet uns Diver aus.
Aber zum Diver-in-der- Tiefe -Tempel darfst du nur gelangen, indem du dich selbst negierst. Indem du etwas nicht mit dem Körper spürst, nicht mit dem Blick oder dem Gehör wahrnimmst – sondern indem du deine in Panik aufgewühlte Seele in einen endlosen Flug wirfst.
Und die Felswände nicht berührst …
Als Belohnung wartet dann in der Ferne dieses warme Licht auf dich, das du auf keine andere Weise erreichen kannst.
Ich schreie etwas. Ich weiß nicht, was, denn ich höre meine Worte nicht. Aber eigentlich will ich sie auch gar nicht hören.
Schade, dass diese Schlucht so kurz ist!
Aus irgendeinem Grund weiß ich, dass ich in dieser Sekunde alles zustände brächte. Ich könnte sagen: Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein! Auf den Bildschirm blicken und verstehen, wie ich diesen Weg bewältigt habe. Aber das will ich gar nicht.
Die Zeit, wo ich das wollte, ist vorbei.
Unter mir liegen die Felswände, diese erbärmlichen und lächerlichen Wände aus Feuer und Eis. Der Nebel. Und der Rand der Schlucht, der mir sanft gegen die Füße schrammt.
Unter mir liegt aber auch der Diver-in-der- Tiefe -Tempel, zu dem ich so lange unterwegs gewesen bin … zu dem ich aufgebrochen bin, lange bevor ich wusste, dass er überhaupt gebaut worden ist.
Ich sehe ihn mir genauer an und fange an zu lachen. Ganz leise.
Er baut sich vor meinen Augen auf. Der Nebel verdichtet sich, wird dick, verwandelt sich von weißer Milch in weißen Stein, der immer fester und solider, der immer realer wird.
Wie konnte so was überhaupt möglich sein?
Vor drei Jahren hatte es überhaupt noch keinen Tempel gegeben! Damals haben wir Diver gerade angefangen, Kontakte untereinander aufzunehmen und uns in einem kleinen unauffälligen Restaurant zu treffen. Die Idee eines Klubs hing in der Luft, aber niemand hatte Lust, ihn aufzubauen.
Vor drei Jahren hatte der Hacker Byrd gar keinen Tempel besuchen können! Und nie im Leben hätten wir für einen Sicherheitscheck jemanden von außen herangezogen! Nein, Byrd hatte mir in der Hacker-Kneipe ein Lügenmärchen aufgetischt und sich insgeheim köstlich über mich amüsiert!
Nur dass dieses Märchen sich jetzt vor meinen Augen materialisiert. Da steht ein weißer Turm, so hoch wie ein neunstöckiges Haus und mit einer Kristallkugel an der Spitze.
Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Und nach welchen Gesetzen entscheidet sich, wann unsere Fantasien und Witze Realität werden, die manchmal komisch, manchmal brutal sind.
Ich gehe zum Turm.
In dieser Sekunde setzen sich Tausende von Servern auf dem ganzen Planeten in Betrieb. Auf jedem von ihnen liegt ein winziges Fragment des Tempels … und alles wurde versteckt, synchronisiert und kopiert, all das hat sein eigenes geheimes, unsichtbares Leben geführt und nur auf dieses Signal gewartet.
Und jetzt ist die Zeit des Tempels gekommen.
Langsam verzieht sich der Nebel. Einen Moment bleibt es trotzdem noch trübe und unklar, dann kann ich die ersten Bäume erkennen. Der Tempel hat sich also einen Ort am Rand von Deeptown ausgesucht, im Waldring, der die eigentliche Stadt von einigen halbisolierten Enklaven trennt. Irgendwo hier haben Romka und ich damals, nach dem Hack in Al Kabar, unsere Verfolger abgehängt.
Ich finde deinen Mörder, Romka. Das dauert nicht mehr lange, hab nur noch etwas Geduld. Aber das ist für dich jetzt ja nicht mehr so schwer …
Je weiter ich auf den Turm zugehe, desto realer wird er. Die Mauern bestehen aus weißem Stein, die Fenster sind schmal wie Schießscharten, die Scheiben von außen mit einem Gitter geschützt. Die massive, breite Tür besteht aus poliertem hellem Holz, anstelle einer Klinke gibt es einen Bronzering.
Und nun?
Wie komme ich hinein?
Ich berühre den Ring – und die Tür geht problemlos auf. Wie konnte ich das vergessen! Da ich über die Brücke gekommen bin, habe ich mir das Recht erworben einzutreten.
Übrigens habe ich mich selbst ebenfalls etwas verändert. Ohne es zu merken. Statt der Kriegsuniform trage ich jetzt die Kleidung des Revolvermanns.
Bestens. Ich hasse Uniformen.
Als ich mich noch einmal umsehe, mache ich durch die letzten Schwaden des abziehenden Nebels ein mattes purpurrotes Licht und ein kaltes blaues Schimmern aus. Leb wohl, mein langer Alptraum. Leb wohl.
Kaum betrete ich den Tempel, meldet sich in der Jackentasche des Revolvermanns der Pager. Ein durchdringendes, helles Klingeln oder ein vorsichtiges Anklopfen – je
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