Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Pat gepackt, aus einer gezeichneten Wunde strömte gezeichnetes Blut. Momentan waren sie beide gleichermaßen irreal, gaben sie beide nur Comicfiguren ab. Die eine Puppe wurde von einem Jungen gesteuert, der sich gerade im Zustand einer Deep-Hypnose befand, die andere von einem Programm.
Verhandle nie mit Terroristen …
Ich drückte ab.
Die Explosion warf mich zu Boden. Der Sensoranzug beulte leicht ein, auf diese Weise den Aufprall imitierend.
Deep.
Enter.
Ein Regenbogen im grauen Nebel …
Ich stehe auf und presse den Raketenwerfer an mich. Ich glaube, er ist inzwischen leer … nein, eine Rakete steckt noch drin …
Um mich herum sind die Überreste des Imperators und von Pat verstreut. Ein Würgereiz packt mich.
»Leonid …«
Ich drehe mich um und sehe Nike in die Augen.
Bei der Explosion hat auch sie etwas abbekommen. Sie kniet auf dem Boden und hält die Waffe auf mich gerichtet.
»Du hast alles richtig gemacht«, erklärt sie. »Pat ist ein kluger Junge, er hatte völlig recht, als er gesagt hat, du sollst schießen. Denn all das ist nur Fiktion. Es ist ein Spiel. Es ist die Tiefe . Hier stirbt niemand wirklich. Und die Hauptsache ist doch, dass jemand in den Tempel gelangt.«
»Und wer von uns beiden wird das sein?«, frage ich. Mein Finger ruht auf dem Abzug des Raketenwerfers. Wenn wir beide gleichzeitig abdrücken, wer stirbt dann schneller? Und wie sieht es aus, wenn ich als Erster schieße?
»Kommt es denn darauf an?«
»Worauf sollte es sonst ankommen?«
»Endlich den Brief in Händen zu halten. Herauszukriegen, was Dibenko der Welt verheimlicht.«
»Aber für mich ist es auch wichtig, in den Tempel zu gehen«, sage ich.
»Das verstehe ich doch, Revolvermann. Allerdings hast du das schon öfter versucht …«
»Wer bist du?«, will ich wissen. »Wer bist du, Nike?«
»Wenn du nicht selbst darauf kommst …«, erwidert sie nach einer kurzen Pause lächelnd.
» Ich gehe in den Tempel!«, verkünde ich – und drücke den Abzug.
Nike bleibt eine halbe Sekunde, bis die letzte Rakete in den Lauf gleitet, dann noch mal eine halbe Sekunde, bis die Rakete die fünf Meter zwischen uns zurückgelegt hat. Das ist mehr als genug Zeit, um mich in ein Sieb zu verwandeln …
Nur schießt sie nicht!
»Nein!«, schreie ich, als die Feuerfontäne im Nebel explodiert.
Aber selbst in der Tiefe kann man nicht alles ungeschehen machen.
Nun stehe ich allein im Nebelmeer, neben einem Häufchen Asche, das einmal Crazy Tosser war, neben blutigen Klumpen, zu denen die Menschen und der computergenerierte Imperator zerfetzt worden sind.
Ich bin ganz allein.
Aus irgendeinem Grund bist du am Ende immer ganz allein.
Ich lasse den Raketenwerfer fallen. Den würde ich jetzt mit Sicherheit nicht mehr brauchen.
Ich weiß, was ich tun muss, aber ich weiß nicht, wie das gelingen soll.
Crazy hätte es vielleicht gewusst, doch ihn gibt es nicht mehr.
Sobald ich den ersten Schritt mache, scheint sich das Schlachtfeld in Luft aufzulösen. Es bleiben nur der Nebel und die Dunkelheit.
Ich bin allein mit meinem Alptraum.
Ich mache den nächsten Schritt. Und noch einen. Zunächst musst du auf gut Glück losgehen. Wenn du dann in der Ferne das Licht sieht, darfst du dich beglückwünschen, die richtige Richtung gewählt zu haben. Dabei weiß ich genau, dass dieses Licht immer auftaucht.
Egal, welche Richtung ich einschlage.
101
Hinter der Tiefe steckt mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Sicher, ihre Grundlage ist klar und simpel. Die virtuelle Stadt Deeptown verbindet verschiedene dreidimensionale Welten miteinander. Du hast die Möglichkeit, dich in dieser Stadt zu bewegen, mit anderen zu kommunizieren und zu agieren, indem du dir entweder einen teuren VR-Anzug und einen Helm zulegst oder Tastatur und Maus benutzt. Das Deep-Programm reduziert die Unterschiede zwischen beiden Varianten auf ein Minimum und zwingt dich zu glauben, du würdest tatsächlich durch eine reale Welt gehen. Dieses Programm ist die größte Zauberin in der virtuellen Welt.
Und dann gibt es eben noch etwas. Etwas, das es einem Diver gestattet, die Fehler in fremden Programmen als offene Türen und schiefe Zäune wahrzunehmen und die Tiefe jederzeit zu verlassen.
Vor zwei Jahren habe ich persönlich dann noch geglaubt, an eine neue Grenze vorgestoßen zu sein.
Da bin ich nämlich ohne jeden Computer in die Tiefe gegangen. Da bin ich in der Lage gewesen, durch jede Wand zu gehen und in der Tiefe alles zu tun, was ich
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