Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
mir nur vorzustellen vermochte.
Doch jeder Traum endet einmal. Leider.
Und so stellte ich beim Aufwachen fest, dass alles nur eine Deep-Psychose gewesen war. Ich hatte mir meine einmaligen Fähigkeiten lediglich eingebildet, hatte aus mir einen Superman der virtuellen Welt gemacht. Es war, wie Vika es nannte, eine Überkompensation.
Doch ich habe mich daran gewöhnt, mit dieser Deep-Psychose zu leben.
Das ist nicht schwer – seit die Zeit der Diver vorbei ist.
Und selbst damals hatte ich nicht alles nur zusammenfantasiert. Den Loser hatte es wirklich gegeben. Und so lange er in der Tiefe war, bin ich imstande gewesen, kleine Wunder zu vollbringen – auch wenn ich nur geleuchtet habe, weil ich mich in seinem Licht gespiegelt habe. Denn all das, was ich sein wollte, steckte in ihm, wer auch immer er gewesen sein mochte, ein Außerirdischer von fernen Sternen oder das Produkt der Netzintelligenz oder ein Zeitreisender. Doch so oder so war er der Inbegriff aller Kraft, Wunder, Heldentaten und Abenteuer.
Dann ist er fortgegangen, und ich bin zurückgeblieben. Als derjenige, der ich immer schon gewesen bin. Als Ex-Diver. Als lebender Loser.
Die Frage ist nur, warum ich dann jetzt vor einer Brücke stehe, warum ich seit Monaten davon träume.
Warum ausgerechnet sie mich zum Diver-in-der- Tiefe -Tempel bringt.
Diese Haarbrücke, die ich nicht zu überqueren vermag.
Gibt es sie nun oder gibt es sie nicht?
Wie soll ich all das erklären? Ist es ein neuer Anfall, eine Halluzination, ein unmöglicher Zufall?
Oder ist doch ein Teil meiner Vergangenheit zu mir zurückgekehrt?
Ich weiß es nicht.
Die linke Wand besteht aus blauem Eis, die rechte aus purpurrotem Feuer. Wie lange versuche ich nun schon, zwischen ihnen hindurchzubalancieren? Ich habe alles probiert, was man sich nur vorstellen kann! Aber dort, am Ende der Schlucht aus Feuer und Eis, dort schimmert ein echtes warmes Licht. Dort steht der Tempel. Ein Stück aus einer untergegangenen Zeit. Eine Antwort auf zukünftige Fragen.
Ich muss diese Brücke bewältigen. Das ist meine Pflicht. Und ich habe nur einen Versuch …
Ich setze einen Fuß auf den Faden. Er ist straff wie eine Saite gespannt, er bildet eine dünne Linie zwischen Wahrheit und Lüge, eine Brücke zwischen dem Guten und dem Bösen, er dient mir als Fährmann, der mich von der Vergangenheit in die Zukunft übersetzt …
Die Antwort ist zum Greifen nahe. Crazy hat behauptet, der Test wäre simpel. Jeder Diver würde ihn bestehen. Das ist schließlich keine Falle, kein für den Feind gedachter Hinterhalt. Es ist ein einfacher Test, um Freund von Feind zu scheiden.
Ich bin ein Freund. Ich bin ein Diver – und deshalb werde ich diesen Test bestehen.
Die linke Felswand tötet dich langsam und Stück für Stück. Sobald du sie berührst – weil du Halt suchst, weil du nicht fallen willst –, schmiedet die Kälte deine Hände fest, kriecht zu deinem Herzen, gefriert dein Blut.
Ich will kein Eis!
Die rechte Wand ist gütiger. Sie tötet dich im Nu, noch ehe du den Schmerz spürst, hast du dein Leben ausgehaucht. Sie kommt als Feuerkuppel daher, als großzügige Flamme, sie schenkt dir die Freiheit, zu Asche zu werden.
Aber ich will auch kein Feuer!
Dieser Test ist simpel. Er muss simpel sein! Ein Austritt aus der Tiefe würde mir nicht weiterhelfen, das habe ich bereits ausprobiert.
Dann verschwindet lediglich die Brücke, das Feuer und das Eis bleibt jedoch.
Was habt ihr euch ausgedacht, Leute?
Was muss ich begreifen, um diese Brücke, die sich über einen endlosen Abgrund spannt, überqueren zu können?
Oder soll ich vielleicht anders an die Sache herangehen?
Was kann ich nicht mehr?
Was habe ich verloren, als ich mir diese Deep-Psychose eingefangen habe?
Die Möglichkeit, die Löcher in fremden Programmen zu sehen? Aber die haben alle verloren, auch diejenigen, die den Tempel gebaut haben …
Den Kontakt mit der Realität?
Dito. Ich kann die Tiefe jederzeit verlassen, ich will es nur nicht mehr.
Nein, die Antwort ist … dass ich aufgehört habe, an die Irrealität der Tiefe zu glauben. Dass sie für mich zum realen Leben geworden ist. Dass sie mir inzwischen alles ersetzt. Oder zumindest fast alles.
Dabei ist die Tiefe nach wie vor nur ein Spiegelbild der Welt.
Denn in den funkelnden Wolkenkratzern und all den prachtvollen Palästen steckt viel zu wenig Mühe. In den märchenhaften Gärten und Parks gibt es allzu oft schönes Wetter. In den designten Gesichtern entdecke ich
Weitere Kostenlose Bücher