Der falsche Zeuge
Sergei?
»Der Junge ist nirgendwo aufzutreiben«, fuhr Raggi fort, »und momentan wissen wir eigentlich nicht mehr über ihn. Der Geschäftsführer ist dieser Russe, bei dem Ruta gewohnt hat, aber der hat gestern das Land verlassen, und das Büro ist geschlossen.«
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Zählte zwei und zwei zusammen. Ruta und Ludmilla. Ihr Vater und Sergei. Rauschgift und brutale Rache.
Irgendwie passte in meinem Kopf alles zusammen.
Nach der Mittagspause kam Drífa ins Büro. Ich musste gut aufpassen, was ich sagte. Wusste ja nicht, ob Siggi Palli sich schon dazu aufgerafft hatte, ihr zu sagen, dass Maria schwanger war.
»Ich mache mir so viele Sorgen wegen der Negative«, sagte sie abgehetzt. »Bist du auch wirklich davon überzeugt, dass sie sich an einem sicheren Ort befinden?«
»Ja.«
»Es steht so wahnsinnig viel für mich auf dem Spiel.«
»Für euch beide.«
»Sigurdur Pálmar hat diese Katastrophe selber über uns heraufbeschworen«, antwortete Drífa kalt. »Aber du sagst auch ganz bestimmt keinem etwas davon, dass er diese Papiere weitergegeben hat?«
»Wie kommst du denn darauf, dass ich es tun könnte?«
»Ich habe nur so große Angst«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, als würde alles, was ich aufgebaut habe, unter unseren Füßen zusammenbrechen, und das ist wirklich ein Furcht erregendes Gefühl.«
»Dann kann ich dich damit erfreuen, dass die Vergewaltigungsklage höchstwahrscheinlich am Ende zurückgezogen werden wird«, antwortete ich.
»Ohne dass der Fall in die Presse kommt?«
»Das wollen wir doch hoffen.«
»Aber die Negative? Ich werde einfach keine Ruhe haben, bevor sie nicht vernichtet worden sind.«
»Mach dir wegen der Negative keine Sorgen.«
Drífa ging langsam zu mir hinüber und lehnte sich an meinen Chefsessel. »Ich werde dir sehr dankbar sein, wenn du das für mich tust«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Du weißt, was ich meine.«
Der süßliche Duft des Parfüms stieg mir in die Nase. »Die Zeit kommt hoffentlich bald, wo wir diesen Müll verbrennen können«, sagte ich.
»Warum nicht jetzt sofort?«
»Das ist zur Zeit nicht möglich.«
Ihre Schmusigkeit verschwand augenblicklich. Der Blick ihrer blauen Augen wurde genauso kalt wie in dem Moment, als Drífa so wütend auf Siggi Palli war.
Es hat aufgehört zu regnen, als ich das Gefängnis in Eyrarbacki erreiche. Obwohl der Himmel über dem Südland immer noch tiefgrau ist.
Ófeigur ist ziemlich niedergeschlagen. Die Isolationshaft im Gefängnis scheint endlich Wirkung zu zeigen. Wird auch Zeit.
Mir fällt ja im Traum nicht ein, ihn aufzumuntern. Ganz im Gegenteil.
Überschütte ihn gleich mit den neuesten Nachrichten. Dass sein Anführer festgenommen wurde und ihm ein Urteil mit vielen Jahren Haftstrafe droht. Auch, dass die Goldjungs viele Kisten mit allem möglichen Kram aus dem Ferienhaus, aus Audólfur Hreinssons Büros und seiner Privatwohnung mitgenommen haben. Viele verschiedene Papiere über Finanzangelegenheiten, aber auch Fotos, Videos und CD-ROMs.
Darunter auch Unterlagen über den Geheimbund SSÍ. Bei einer schnellen Durchsicht der Papiere stellte sich heraus, dass der Verein »Samband sannra Íslendinga« heißt. Das Vereinslogo besteht aus zwei parallelen »S«, die mit Runenschrift wie bei den SS-Truppen der deutschen Nazis geschrieben wurden, und aus einem »Í«, das die beiden S in der Mitte horizontal verbindet.
»Die Goldjungs haben die Namen aller, die in dem Geheimbund Mitglied sind, und sie haben bereits angefangen, einige von ihnen zu verhören«, fahre ich fort. »Heute Vormittag haben sie mir eins der vielen Videos gezeigt, die bei der Hausdurchsuchung konfisziert wurden. Darauf war ein Film von deiner Aufnahme in den Bund zu sehen.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelt Ófeigur.
»Ich habe gesehen, wie du mit Audólfur Hreinsson Blutsbrüderschaft geschlossen hast und ihn Ziehbruder und Anführer genannt hast«, sage ich und grinse breit. »Ihr seht ja vielleicht idiotisch aus in diesen Uniformen, und wie ihr euch bemüht, ihn mit dem Hitlergruß zu grüßen! Das ganze Land wird über euch lachen, wenn diese Filme veröffentlicht werden!«
Er guckt auf seine Hände. »Aber du hast doch noch das Video aus dem Bankschließfach, oder?«, fragt er nach längerem Schweigen.
Ich schüttle den Kopf: »Das Schließfach war leer.«
»Leer?«
»Hatte Audólfur auch einen Schlüssel?«
Er nickt.
»Dann ist das Video bestimmt auch schon bei
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