Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
schmerzverzerrt.
»Was ist los?«, fragte Hank.
»Ein Krampf«, keuchte er. »O Gott… tut das weh!« Er stieß einen geflüsterten Schrei aus. »Die Fußfesseln!«
Sein linkes Bein war durchgestreckt und zitterte.
»Sollen wir ihn losmachen?«, fragte Gersham.
Welles zögerte. »Nein«, beschloss sie und wandte sich an Weir. »Legen Sie sich hin, auf die Seite. Ich kümmere mich darum.« Sie war Joggerin und wusste, wie man Krämpfen begegnete. Dieser hier war vermutlich nicht vorgetäuscht – der Mann schien echten Schmerz zu verspüren, und sein Beinmuskel war steinhart.
»O verdammt«, rief Weir gequält. »Die Fesseln!«
»Wir müssen sie abnehmen«, sagte ihr Partner.
»Nein«, wiederholte Welles entschlossen. »Wir legen ihn hin. Den Rest übernehme ich.«
Sie ließen Weir vorsichtig auf den Boden sinken, und Welles fing an, das steife Bein zu massieren. Hank wich ein Stück zurück und behielt sie im Auge. Dann hob sie zufällig den Kopf und bemerkte, dass Weir die gefesselten Hände hinter dem Rücken zur Seite genommen hatte. Sein Hosenbund war ein paar Zentimeter nach unten gerutscht.
Sie schaute genauer hin und sah, dass auf seiner Hüfte ein Stück Heftpflaster geklebt hatte. Nun war es halb abgelöst, und darunter… was, zum Teufel, war
das
denn? Ein Schlitz in der Haut.
In diesem Moment traf seine durchgestreckte Handfläche sie mitten ins Gesicht und brach ihr das Nasenbein. Der plötzliche Schmerz war überwältigend und raubte ihr den Atem.
Ein Schlüssel! Er hatte unter der Haut einen Schlüssel oder Dietrich versteckt.
Ihr Partner streckte sofort den Arm aus, aber Weir war blitzschnell auf den Beinen und rammte ihm den Ellbogen in die Kehle. Gersham ging ächzend in die Knie, fasste sich an den Hals und rang hustend nach Luft. Weir griff nach Welles’ Pistole und wollte sie aus dem Holster ziehen. Die Beamtin packte den Kolben der Waffe mit beiden Händen und hielt mit aller Kraft dagegen. Sie wollte schreien, aber ihr floss Blut von der Nase in den Rachen, und sie fing an zu würgen.
Ohne die Pistole loszulassen, griff Weir mit der linken Hand nach unten und befreite sich innerhalb weniger Sekunden von den Fußfesseln. Dann benutzte er beide Hände, um die Glock an sich zu bringen.
»Hilfe!«, rief Welles und spuckte Blut. »Hilfe, schnell!«
Weir gelang es, die Waffe aus dem Holster zu ziehen, doch Welles dachte an ihre Kinder und hielt sein Handgelenk unnachgiebig umklammert. Die Mündung schwang einmal quer durch den halben Korridor, vorbei an Hank, der auf Händen und Knien würgend zu atmen versuchte.
»Hilfe! Officer verletzt! Hilfe!«, schrie Welles.
Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür, und jemand rannte los, aber der Gang schien zehn Meilen lang zu sein, und Weir bekam die Pistole immer besser zu fassen. Sie fielen beide zu Boden, so dass die verzweifelten Augen des Häftlings nur Zentimeter von Welles’ Gesicht entfernt waren und der Lauf der Waffe sich langsam in ihre Richtung drehte. Dann kam die Glock zwischen ihnen zum Stillstand. Weir bemühte sich keuchend, den Zeigefinger um den Abzug zu legen.
»Nein, bitte, nein, nein«, wimmerte die Beamtin. Weir lächelte grausam, und sie starrte in die schwarze Mündung der Pistole, die dicht vor ihrem Kopf nun jeden Moment feuern würde.
Linda sah ihre Kinder, den Vater des Mädchens, ihre eigene Mutter…
Nicht mit mir, dachte Welles wütend, stemmte einen Fuß gegen die Wand und stieß sich ab. Weir rollte unfreiwillig nach hinten, und sie fiel auf ihn.
Mit ohrenbetäubendem Knall löste sich ein Schuss. Welles spürte den harten Rückstoß und konnte nichts mehr hören.
Blut spritzte an die Wand.
Nein, nein, nein!
Bitte, lass Hank nichts passiert sein!, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.
Doch sie sah, wie ihr Partner sich aufrappelte. Er war unverletzt. Dann wurde ihr klar, dass sie nicht länger um die Waffe ringen musste, sondern sie allein in der Hand hielt. Weir rührte sich nicht mehr. Zitternd stand Welles auf und wich von ihm zurück.
O mein Gott…
Die Kugel hatte ihn seitlich in den Kopf getroffen und eine schreckliche Wunde verursacht. Hinter ihm an der Wand klebten Blut, Hirnmasse und Knochenstücke. Weir lag auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zur Decke. Von seiner Schläfe rann Blut auf den Boden.
Welles heulte auf. »Scheiße, was hab ich da angerichtet! O Scheiße! Hilf ihm doch jemand!«
Ein Dutzend ihrer Kollegen kam angerannt, doch als Linda sich zu ihnen umdrehte,
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