Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
wirklich, dass er nichts mit den Anschlägen auf Sie zu tun hatte, Charles.«
Auf Meinungen eines Verteidigers konnte Grady gut und gern verzichten, auch im Falle eines anständigen Kerls wie Roth. »Und er hat stichhaltige Informationen?«, fragte er.
»Ja, die hat er.«
Grady glaubte ihm. Roth ließ sich von niemandem etwas vormachen; wenn er überzeugt war, dass Constable einige der eigenen Leute auslieferte, würde es auch dazu kommen. Wie erfolgreich der daraus resultierende Prozess verlaufen würde, war natürlich eine andere Frage. Aber falls Constable über relativ schlüssige Details verfügte und die Staatspolizei bei den Ermittlungen und Festnahmen auch nur halbwegs professionell vorging, würde Grady die Leute fast mit Sicherheit hinter Gitter bringen können. Außerdem würde er dafür sorgen, dass Lincoln Rhyme die Spurenauswertung leitete.
Im Hinblick auf Weirs Tod verspürte Grady gemischte Gefühle. Offiziell würde er zweifellos sein Bedauern zum Ausdruck bringen und eine genaue Untersuchung versprechen, aber insgeheim freute er sich, dass es diesen Scheißkerl erwischt hatte. Er war noch immer schockiert und wütend, dass ein Killer einfach in die Wohnung spaziert war, in der seine Frau und Tochter lebten, und vorgehabt hatte, notfalls auch sie zu ermorden.
Grady sah das Glas Wein an, von dem er jetzt gern einen Schluck getrunken hätte, erkannte aber, dass dieser Anruf vorläufige Abstinenz bedeutete. Der Fall Constable war dermaßen wichtig, dass der Staatsanwalt alle fünf Sinne beisammen haben musste.
»Er will mit Ihnen von Angesicht zu Angesicht sprechen«, sagte Roth.
Der Wein war ein Cabernet Sauvignon. Sogar ein 1997er. Ein erstklassiger Jahrgang von einem erstklassigen Weingut.
»Wie schnell können Sie ins Untersuchungsgefängnis kommen?«, fragte Roth.
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
Grady legte auf.
»Die gute Nachricht ist, dass es morgen keinen Prozess geben wird«, verkündete er seiner Frau.
»Ich komme mit«, sagte Luis, der ruhige Leibwächter.
Nach Weirs Tod hatte Lon Sellitto alle anderen Beschützer abgezogen.
»Nein, Sie bleiben hier bei meiner Familie, Luis. Dann ist mir etwas wohler zumute.«
»Wenn das die gute Nachricht war, Liebling, wie lautet dann die schlechte?«, fragte seine Frau besorgt.
»Ich kann nicht zum Abendessen bleiben«, sagte der Staatsanwalt, warf sich etwas Knabbergebäck in den Mund und spülte es mit einem großen Schluck des edlen Weins herunter. Zum Teufel damit, dachte er. Lasst uns feiern.
Sachs’ verbeulter gelber Camaro SS hielt vor der Centre Street 100. Sie legte den NYPD-Parkausweis auf das Armaturenbrett, stieg aus und nickte einigen Leuten von der Spurensicherung zu, die neben ihrem Einsatzwagen standen. »Wo muss ich hin?«
»Erdgeschoss, hinten. Der Korridor zum Zellentrakt.«
»Abgeriegelt?«
»Ja.«
»Wessen Waffe?«
»Die von Linda Welles. Justizbeamtin. Sie ist ziemlich mitgenommen. Das Arschloch hat ihr die Nase gebrochen.«
Sachs nahm einen der Gerätekoffer, befestigte ein kleines Rollengestell daran und zog ihn auf dem Weg zum Eingang hinter sich her. Die Kollegen taten es ihr gleich und folgten ihr.
Die Arbeit würde diesmal Routine sein. Ein versehentlich abgefeuerter Schuss beim Kampf zwischen einer Beamtin und einem Täter, der zu fliehen versuchte? Reine Formsache. Dennoch handelte es sich um einen Todesfall, und die Untersuchungskommission würde einen vollständigen Tatortbericht verlangen, der auch für weitergehende Ermittlungen und eventuelle Gerichtsverfahren wichtig sein könnte. Amelia Sachs würde diesen Schauplatz genauso sorgfältig wie jeden anderen untersuchen.
Ein Posten überprüfte ihre Dienstausweise und führte sie dann durch ein Ganglabyrinth und über eine Treppe in den Keller. Schließlich erreichten sie eine geschlossene Tür, die mit gelbem Absperrband markiert war. Ein Detective sprach soeben mit einer uniformierten Beamtin. Die Nase der Frau war frisch versorgt worden.
Sachs stellte sich den beiden vor und erklärte, sie werde nun den Tatort inspizieren. Der Detective trat beiseite, und sie fragte Linda Welles, was geschehen sei.
Stockend und näselnd berichtete die Beamtin, dass es dem Verdächtigen auf dem Weg von der Registrierung zum Zellentrakt irgendwie gelungen sei, die Handschellen zu öffnen. »Er hat nur zwei oder drei Sekunden gebraucht. Für alle Schlösser. Einfach so, dann waren sie auch schon offen. Aber nicht mit meinem Schlüssel.« Sie deutete auf
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