Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
sie sorgfältig ab und legte sie zum Trocknen auf ein Gestell. Diese Akribie war ihm bei allem, was er tat, zur zweiten Natur geworden; sein Mentor, ein leidenschaftlicher, reizbarer und fast schon fanatischer Illusionist, hatte ihm die Disziplin gründlich eingebläut.
Dann ging der Mann in das größere der beiden Schlafzimmer und sah sich die Videoaufnahme an, die er vom Schauplatz der nächsten Vorstellung angefertigt hatte. Er kannte dieses Band bereits in- und auswendig, doch er wollte sich ein weiteres Mal vergewissern. (Sein Mentor hatte ihm nachdrücklich – und mitunter handgreiflich – eingeschärft, wie wichtig die 100:1-Regel war: Für jede Minute auf der Bühne musste man hundert Minuten proben.)
Während er die Aufzeichnung verfolgte, zog er einen mit Samt bespannten Tisch zu sich heran und übte einige simple Kartentricks, ohne auf seine Hände zu achten: das präzise Mischen gezinkter Werte und das Abheben mit drei Stapeln. Danach ein paar schwierigere Aufgaben: das wiederholte Umdrehen einer Karte, das Auffächern des Stapels und das passgenaue Geben. Schließlich versuchte er sich an einigen komplizierten Nummern, darunter Stanley Palms
Geisterkarten
, Maldos berühmtes
Sechs-Karten-Rätsel
, mehrere Tricks des bekannten Kartenzauberers und Schauspielers Ricky Jay und manche seines Kollegen Cardini.
Dann nahm Malerick sich ein paar Kartentricks aus dem Repertoire des frühen Harry Houdini vor. Die meisten Leute kannten Houdini nur als Entfesselungskünstler, doch in Wirklichkeit war der Mann ein vielseitiger Zauberer gewesen, der sowohl das Illusionistenhandwerk – aufwendige Bühnennummern, bei denen Assistentinnen oder Elefanten verschwanden – als auch die üblichen Taschenspielertricks beherrscht hatte. Malerick betrachtete Houdini als eines seiner großen Vorbilder. Zu Beginn seiner Karriere, noch als Teenager, war er als »der junge Houdini« aufgetreten, und der hintere Teil seines jetzigen Namens, »erick«, stellte nicht nur eine Anspielung auf sein früheres Leben – das Leben vor dem Feuer – dar, sondern war zudem als Hommage an Houdini gedacht, der als Erich Weisz das Licht der Welt erblickt hatte. Bei der Vorsilbe »Mal« würden viele Kenner der Zunft womöglich auf einen anderen weltberühmten Künstler getippt haben, nämlich Max Breit, besser bekannt als Malini. In Wahrheit jedoch hatte Malerick diese drei Buchstaben gewählt, weil sie dem lateinischen Wortstamm für »böse« entsprachen und somit widerspiegelten, welch dunklen Zweig der Kunst er bevorzugte.
Er konzentrierte sich auf das Video, zog die Abmessungen des Schauplatzes in Betracht, bedachte die Anordnung der Fenster und die Aufenthaltsorte eventueller Zeugen und konzipierte daraus seine jeweiligen Handlungen, so wie es jeder geübte Künstler tun würde. Während er zusah, mischten die Karten zwischen seinen Fingern sich scheinbar wie von selbst und blitzschnell, begleitet von einem leisen, schlangenartigen Zischeln. Die Könige, Buben, Königinnen, Joker und all die anderen Karten glitten über den schwarzen Samt, schienen dann der Schwerkraft zu trotzen und sprangen in seine starken Hände zurück, in denen sie wieder verschwanden. Wäre bei dieser Stegreifdarbietung ein Publikum zugegen gewesen, hätten die Leute nun die Köpfe geschüttelt und unwillkürlich geglaubt, einem Trugbild aufzusitzen, da das Gesehene sich anscheinend unmöglich erklären ließ.
Doch das Gegenteil war der Fall. Die Kartentricks, die Malerick beiläufig auf dem edlen schwarzen Stoff vollführte, hatten nichts Übernatürliches an sich, sondern waren das Ergebnis sorgfältig einstudierter Geschicklichkeitsübungen. Sie basierten auf einer Sinnestäuschung des Betrachters und den natürlichen Gesetzen der Physik.
O ja, verehrtes Publikum, was Sie soeben gesehen haben und noch sehen werden, ist durchaus real.
So real wie Fleisch, das im Feuer verbrennt.
So real wie eine Schlinge, die sich um den weißen Hals eines Mädchens legt.
So real wie die Zeiger der Uhr, die sich langsam und unaufhörlich dem Zeitpunkt nähern, an dem unser nächster Proband Entsetzliches erleben wird.
»Hallo.«
Die junge Frau setzte sich neben das Bett ihrer Mutter. Durch das Fenster konnte sie draußen im gepflegten Garten eine hohe Eiche erkennen, auf deren Stamm eine Efeuranke wuchs, die im Verlauf der letzten Monate immer wieder anders ausgesehen hatte. Heute kam sie ihr weder wie ein Drache noch wie ein Vogelschwarm oder ein Soldat vor, sondern
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