Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
einfach wie eine farblose Pflanze, die mitten in der Stadt ums Überleben kämpfte.
»Also, wie fühlst du dich, Mum?«, fragte Kara.
Die Anrede ging auf einen der vielen Familienurlaube zurück – in diesem Fall in England. Kara hatte jeden mit einem Spitznamen bedacht: »Seine Königliche Hoheit« und »Queen Mum« für ihre Eltern und »Prinzessin« für sich selbst.
»Gut, Liebes. Und wie geht’s dir?«
»Mal besser, mal schlechter. He, wie gefallen dir die?« Kara hob die Hände und zeigte ihre kurzen, gleichmäßig gefeilten Fingernägel vor, die allesamt schwarz lackiert waren.
»Prima, mein Schatz. Von dem Rosa hatte ich langsam genug. Das trägt heutzutage jeder. Furchtbar spießig.«
Kara stand auf und rückte ihrer Mutter das Daunenkissen zurecht. Dann setzte sie sich wieder und trank einen Schluck aus dem großen Starbucks-Becher. Kaffee war ihr einziges Laster, aber dafür ein sehr innig gepflegtes. Dies war bereits ihr dritter Becher an jenem Morgen.
Nachdem Kara während der Jahre in New York City alle möglichen Haarfarben ausprobiert hatte, war ihre Wahl kürzlich auf eine Mischung aus Kastanienbraun und Lila gefallen, verbunden mit einer eher knabenhaften Frisur. Manche Leute behaupteten, sie sehe damit wie ein Kobold aus, was Kara überhaupt nicht gern hörte; sie selbst fand den Haarschnitt eher »praktisch«, denn er gestattete ihr, schon wenige Minuten nach dem Duschen das Haus zu verlassen – was für jemanden wie sie, der selten vor drei Uhr nachts zu Bett ging und ein erklärter Morgenmuffel war, echte Vorteile besaß.
Heute trug sie eine schwarze Stretchhose und flache Schuhe, obwohl sie weniger als einen Meter sechzig maß. Ihr ärmelloses dunkelviolettes Oberteil ließ feste Muskeln mit klaren Konturen erkennen. Kara hatte ein College besucht, auf dem Kunst und Politik mehr galten als körperliche Ertüchtigung, doch nach ihrem Abschluss war sie Mitglied in einem Fitnessstudio geworden, stemmte inzwischen regelmäßig Gewichte und hetzte sich auf dem Laufband ab. Bei einer Frau Ende zwanzig, die seit acht Jahren im Szeneviertel Greenwich Village wohnte, hätten die meisten wohl irgendeine Art von dauerhaftem Körperschmuck vermutet, und sei es nur ein versteckter Ring, aber Karas auffallend weiße Haut trug keine einzige Tätowierung und war ungepierct.
»Hör mal, Mum, ich hab morgen eine Show. Eine von Mr. Balzacs kleinen Veranstaltungen. Du weißt schon.«
»Ich erinnere mich.«
»Aber diesmal ist es anders. Diesmal lässt er mich solo auftreten. Nicht nur zum Aufwärmen, sondern mit dem vollen Programm.«
»Wirklich, Liebling?«
»So wahr ich hier sitze.«
Auf dem Flur schlurfte Mr. Geldter vorbei. »Guten Morgen.«
Kara nickte ihm zu. Sie musste unwillkürlich daran denken, was geschehen war, als ihre Mutter damals in das Stuyvesant Manor einzog, eines der besten Seniorenheime der Stadt. Die Frau und der Witwer hatten einen ganz schönen Aufruhr verursacht.
»Die glauben, wir wollen zusammenziehen«, hatte sie ihrer Tochter zugeflüstert.
»Und – wollt ihr?«, hatte Kara gefragt und dabei gedacht, dass es nach fünf Jahren Witwendasein höchste Zeit für eine neue Beziehung sei.
»Natürlich nicht!«, hatte ihre Mutter wütend erwidert. »Was für ein Gedanke!« (Der Zwischenfall war typisch für sie: Es gefiel ihr, ein wenig anrüchig zu erscheinen, aber es gab eine klare Grenze – deren Verlauf sich je nach Laune ändern konnte –, hinter der man für sie zum Feind wurde, auch als ihr eigen Fleisch und Blut.)
Jetzt beugte Kara sich aufgeregt vor, schilderte ihrer Mutter voller Begeisterung den geplanten Ablauf der Aufführung und nahm sie derweil genau in Augenschein. Für eine Frau Mitte siebzig hatte sie außergewöhnlich glatte Haut, die zudem rosig gesund wie die eines Babys wirkte. Ihr Haar war weitgehend ergraut, aber es gab noch jede Menge widerspenstiger schwarzer Strähnen. Die Kosmetikerin des Hauses hatte es zu einer modischen Frisur aufgesteckt. »Wie dem auch sei, Mum, ein paar Freunde von mir werden dort sein, und es wäre toll, wenn du auch kommen könntest.«
»Ich werd’s versuchen.«
Kara, die mittlerweile auf der Sesselkante saß, bemerkte plötzlich, dass sie die Hände zu Fäusten geballt und sich am ganzen Körper verkrampft hatte. Ihr Atem glich einem abgehackten Keuchen.
Ich werd’s versuchen.
Kara schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen an. Verdammt!
Ich werd’s versuchen…
Nein, nein, nein, das ist völlig
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