Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
niemand auf ihn. Seine Gesten und seine Mimik waren nämlich vollkommen natürlich, was – wie jeder Illusionist wusste – dafür sorgte, dass er unsichtbar wurde.
Da er keinen Verfolger entdecken konnte, schlenderte er schließlich weiter, bog in eine Seitenstraße ab und folgte dem von Bäumen gesäumten Bürgersteig bis zu seiner Wohnung. Zu dieser Zeit waren hier nur ein paar Jogger und zwei oder drei Anwohner unterwegs, die mit der
Times
und einer Tüte Brötchen nach Hause zurückkehrten und sich schon darauf freuten, ihren Kaffee zu trinken, in Ruhe die Zeitung zu lesen und eventuell eine gemütliche Samstagmorgennummer zu schieben.
Malerick stieg die Stufen zu dem Apartment hinauf, das er vor einigen Monaten gemietet hatte, gelegen im hinteren Teil eines dunklen, ruhigen Gebäudes, das so ganz anders war als sein Haus und die Werkstatt in der Wüste bei Las Vegas.
Wie ich schon sagte, unsere nächste Nummer folgt in Kürze.
Vorerst, verehrtes Publikum, sollten Sie sich vielleicht über die soeben gesehene Illusion austauschen, mit den Leuten um Sie herum ein wenig plaudern und zu erraten versuchen, was als Nächstes auf dem Programm steht.
Unser zweiter Auftritt wird dem Probanden grundlegend andere Fähigkeiten als
Der Faule Henker
abfordern, dabei jedoch, das versichere ich Ihnen, nicht minder beeindruckend ausfallen.
Diese und noch Dutzende anderer Sätze kamen Malerick immer wieder ganz von selbst in den Sinn.
Verehrtes Publikum…
Er sprach andauernd zu seinen imaginären Zuschauern. (Manchmal vernahm er sogar ihren Beifall, hörte jemanden lachen oder mitunter vor Entsetzen aufkeuchen.) Ein Hintergrundrauschen voller Worte, in genau dem theatralischen Tonfall, den ein geschminkter Zirkusdirektor oder ein Illusionist aus viktorianischer Zeit benutzt haben würde. Geplapper hieß das in Fachkreisen – ein Monolog, der eine Beziehung zum Publikum herstellen und die zum Gelingen des Tricks notwendigen Informationen übermitteln sollte. Und der zum Ziel hatte, die Leute einzulullen und abzulenken.
Nach dem Feuer hatte Malerick den Kontakt zu seinen Mitmenschen weitgehend abgebrochen. An ihre Stelle war mehr und mehr das imaginäre verehrte Publikum getreten, das letztlich zu seinem ständigen Begleiter wurde. Bald schon erfüllte das Geplapper Malericks Gedanken und Träume, und bisweilen fürchtete er, es könnte ihn vollends in den Wahnsinn treiben. Gleichzeitig aber empfand er es als einen verlässlichen Halt, denn es vermittelte ihm den Eindruck, nach dem tragischen Unglück vor drei Jahren nicht ganz allein dazustehen. Sein verehrtes Publikum war immer bei ihm.
Das Apartment roch nach billigem Firnis und einem seltsam durchdringenden Aroma, das die Tapeten und Böden verströmten. Die ursprüngliche Möblierung schien eher karg und bestand aus ein paar schlichten Sofas und Sesseln sowie einem zweckmäßigen Esstisch, an dem gegenwärtig nur ein einziger Platz eingedeckt war. Die Schlafzimmer hingegen waren voll gestopft mit den Utensilien der Illusionistenzunft: Requisiten, Vorrichtungen, Seile, Kostüme, Gussformen zur Latexverarbeitung, Perücken, Stoffballen, eine Nähmaschine, Farben, Feuerwerkskörper, Schminke, Platinen, Drähte, Batterien, Kollodiumpapier und Schießbaumwolle, Zündschnüre, Werkzeuge zur Holzbearbeitung… und unzählige andere Dinge.
Malerick bereitete sich einen Kräutertee zu, nahm am Esstisch Platz, trank Schluck um Schluck des dünnen Gebräus, aß dazu etwas Obst und schließlich einen fettarmen Müsliriegel. Als Illusionist wurde man physisch stark gefordert, und das Gelingen einer Nummer hing von der körperlichen Verfassung des Künstlers ab. Eine gesunde Ernährung und regelmäßiger Sport waren für den Erfolg unerlässlich.
Mit dem Verlauf des heutigen Morgens war Malerick durchaus zufrieden. Er hatte die erste Probandin ganz mühelos getötet – und ihn überkam ein Schauder der Erregung, wenn er daran dachte, wie sie vor Schreck erstarrt war, als er ihr von hinten die Schlinge über den Kopf gestreift hatte. Sie war völlig ahnungslos gewesen, obwohl er schon seit einer halben Stunde in der Ecke gelauert hatte, verborgen unter schwarzer Seide. Das überraschende Auftauchen der Polizei – nun ja, das hatte ihn einen Moment lang aus dem Konzept gebracht. Aber wie alle guten Illusionisten war Malerick auf einen solchen Fall vorbereitet gewesen, und die Flucht war ihm perfekt gelungen.
Er beendete sein Frühstück, brachte die Tasse in die Küche, wusch
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