Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
falsch, dachte sie. Ihre Mutter würde nicht sagen: »Ich werd’s versuchen.« Das passte überhaupt nicht zu ihr. Viel besser wäre: »Ich werde da sein, mein Schatz. In der ersten Reihe.« Oder sie würde kühl entgegnen: »Tja, morgen
kann
ich leider nicht. Du hättest mir früher Bescheid geben sollen.«
Was auch immer man ihrer Mutter nachsagen konnte, sie machte keine halben Sachen. Sie war für oder gegen dich, und das stets aus vollem Herzen.
Nur jetzt nicht mehr – denn die alte Dame war kaum noch ein menschliches Wesen. Bestenfalls ein kleines Kind, das mit offenen Augen schlief.
Das Gespräch zwischen den beiden Frauen hatte nur in Karas Fantasie stattgefunden. Nun ja, Karas Anteil war echt gewesen. Aber die Äußerungen ihrer Mutter, von
Gut, Liebes. Und wie geht’s dir?
bis zu dem missglückten
Ich werd’s versuchen
, hatte sie sich hinzugedacht.
Nein, ihre Mutter hatte heute kein einziges Wort gesprochen. Auch nicht während des gestrigen Besuchs. Oder am Tag davor. Sie hatte in einer Art Wachkoma neben dem efeuumrankten Fenster gelegen. An manchen Tagen war es so. An anderen war sie zwar wach, stammelte aber nur erschreckenden Unsinn vor sich hin, der deutlich erkennen ließ, wie gnadenlos die unsichtbare Armee durch ihr Hirn marschierte und dabei Gedächtnis und Verstand auslöschte.
Doch die Tragödie hatte noch weitaus perfidere Seiten. Hin und wieder trat ein fragiler Moment der Klarheit ein, der Kara – so kurz er auch sein mochte – neue Hoffnung einflößte. Immer wenn sie fast bereit war, sich damit abzufinden, dass die Mutter, die sie einst gekannt hatte, nicht mehr zurückkehren würde, kam die Frau zu sich, als hätte es nie eine Gehirnblutung gegeben. Und jedes Mal fiel Kara aufs Neue darauf herein, so wie eine misshandelte Frau ihrem prügelnden Ehemann beim kleinsten Zeichen der Reue immer wieder verzieh. In solchen Momenten redete sie sich ein, dass ihre Mutter sich wieder erhole.
Die Ärzte behaupteten natürlich, es gäbe so gut wie keine Hoffnung mehr. Allerdings hatte keiner von ihnen vor einigen Monaten am Bett der Mutter gesessen, als diese plötzlich aufgewacht war. »Hallo, mein Schatz«, hatte sie zu Kara gesagt. »Ich hab die Kekse gegessen, die du mir gestern mitgebracht hast. Mit extra viel Pekannüssen, genau wie ich es mag. Zum Teufel mit den Kalorien.« Ein verschmitztes Lächeln. »Ach, ich freu mich, dass du hier bist. Ich wollte dir doch noch erzählen, was Mrs. Brandon gestern Abend gemacht hat. Mit der Fernbedienung.«
Kara hatte vor lauter Verblüffung kein Wort über die Lippen bekommen. Denn, verflucht noch mal, sie
hatte
ihrer Mutter am Vortag Kekse mit extra viel Pekannüssen mitgebracht. Und ja, die verrückte Mrs. Brandon aus dem vierten Stock
hatte
eine Fernbedienung geklaut, sich aus dem Fenster gelehnt und nebenan im Aufenthaltsraum des Pflegeheims eine halbe Stunde lang für Tumult gesorgt, weil sie wie ein Poltergeist immer wieder den Sender des Fernsehgeräts umschaltete und die Lautstärke veränderte.
Na also! Welchen besseren Beweis gab es, dass ihre lebensfrohe Mutter, ihre
wirkliche
Mutter, noch immer in diesem beschädigten Körper hauste und irgendwann wieder dauerhaft zum Vorschein kommen würde?
Doch am nächsten Tag hatte Kara eine Frau angetroffen, die ihre Tochter misstrauisch beäugte und fragte, wer sie sei und was sie wolle. Falls es um die Stromrechnung in Höhe von zweiundzwanzig Dollar und fünfzehn Cents gehe, so habe sie diese bereits bezahlt und könne den Bankbeleg über die Scheckeinlösung als Beweis vorlegen. Ein Vorfall wie der mit den Nusskeksen und der Fernbedienung hatte sich seitdem nicht wiederholt.
Kara berührte ihre Mutter am Arm, warm, faltenlos, babyrosa. Und sie spürte, was sie bei jedem ihrer täglichen Besuche empfand – einen lähmenden Dreiklang aus Wünschen: dass ihre Mutter ein gnädiger Tod ereilen würde, dass sie wieder zu alter Lebensfreude erwachen möge – und dass Kara sich von der schrecklichen Last befreien könnte, diese beiden unvereinbaren Hoffnungen gleichzeitig zu hegen.
Ein Blick auf die Uhr. Sie war spät dran, so wie immer. Mr. Balzac würde
nicht
erfreut sein. Samstags war stets am meisten zu tun. Sie trank den Kaffee aus, warf den Becher in den Abfalleimer und ging hinaus auf den Flur.
Eine korpulente Schwarze in weißer Schwesterntracht hob grüßend die Hand. »Kara! Wie lange sind Sie schon hier?« Ihr rundes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln.
»Seit
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