Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
»Ich schätze, das wird Mr. Constable gern hören.«
Er malte sich aus, wie Constable über der erkaltenden Leiche des Anwalts hockte, zunehmend in Panik geriet und darauf wartete, dass Weir mit Waffen und Verkleidungen eintraf, um ihn aus dem Gebäude zu schaffen – was selbstverständlich niemals geschehen würde.
Stattdessen würde die Tür des Zimmers sich öffnen und ein Dutzend Wachen den Mann zurück in seine Zelle verfrachten. Der Prozess könnte wie geplant eröffnet werden, und weder der verblüffte Andrew Constable noch Barnes oder Wentworth oder sonst jemand von diesen Neandertalern aus der hintersten Provinz würde je begreifen, dass man ihn nur benutzt hatte.
Als Malerick vor einer weiteren Ampel anhielt, fragte er sich, welchen Verlauf wohl das andere Ablenkungsmanöver in diesem Moment nehmen mochte. Er hatte die Nummer
Das vergiftete kleine Mädchen
genannt. Sie war zwar etwas melodramatisch, wenn nicht gar unverblümt klischeehaft, aber er hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass die Zuschauer mit eher schlichten Geschichten am besten zurechtkamen. Es war natürlich nicht die Erfolg versprechendste Täuschung der Welt, denn er konnte sich weder sicher sein, dass man die Spritze im Lanham Arms fand, noch dass das Mädchen oder sonst jemand den Schokoriegel aß. Allerdings waren Rhyme und sein Team ziemlich gut, also bestand die realistische Chance, dass sie entsetzt zu dem Schluss kommen würden, es handle sich schon wieder um einen Anschlag auf den Staatsanwalt und seine Familie. Dann würden sie herausfinden, dass der Riegel gar kein Gift enthielt.
Was mochten sie daraus wohl folgern?
Dass es
andere
, präparierte Süßigkeiten gab?
Oder dass es eine Irreführung war – um sie vom Untersuchungsgefängnis abzulenken, wo Malerick
eventuell
einen zweiten Fluchtversuch für Constable vorbereitete?
Kurzum, auch die Polizei dürfte völlig verwirrt sein und keine Ahnung haben, was tatsächlich passierte.
Tja, verehrtes Publikum, es passiert sogar schon seit zwei Tagen: ein ausgeklügelter Auftritt, der sich einer perfekten Mischung aus physischer und psychologischer Täuschung bedient.
Physisch – indem er die Aufmerksamkeit der Polizei gleichzeitig auf Charles Gradys Wohnung
und
auf das Untersuchungsgefängnis richtete.
Psychologisch – indem er den Verdacht von seinem wahren Vorhaben ablenkte und stattdessen ein überaus glaubhaftes Motiv präsentierte, von dem Lincoln Rhyme stolz annahm, es eigenständig herausbekommen zu haben: den Auftragsmord an Grady und die Durchführung von Andrew Constables Flucht. Sobald die Polizei hiervon fest überzeugt gewesen war, hatte sie aufgehört, weiter nach seinen Beweggründen zu forschen.
Die wiederum hatten nicht das Geringste mit dem Fall Constable zu tun. Alle Hinweise, die er so deutlich hinterlassen hatte – die den Illusionistennummern nachempfundenen Angriffe auf die ersten drei Opfer, welche jeweils für einen Aspekt des Zirkus standen, die Schuhe mit den Hundehaaren und Pflanzenpartikeln, die auf den Central Park hindeuteten, die Anspielungen auf das Feuer in Ohio und die Verbindung zum Cirque Fantastique… all das hatte die Polizei überzeugt, dass er sich nicht wirklich an Kadesky rächen wollte, denn es schien, wie Lincoln Rhyme es ihm ins Gesicht gesagt hatte, viel zu offensichtlich. Er
musste
in Wahrheit etwas anderes vorhaben.
Hatte er aber nicht.
Er trug inzwischen die Kleidung eines Sanitäters und bog mit dem Krankenwagen, den er steuerte, soeben in den Serviceeingang des Zeltes ein, das den »weltberühmten, international gefeierten, allseits bejubelten Cirque Fantastique« beherbergte.
Er parkte den Wagen unter der Logentribüne, stieg aus und schloss die Tür ab. Keiner der Bühnenarbeiter, Polizisten oder zahlreichen Wachmänner achtete auf ihn oder den Rettungswagen. Nach der heutigen Panik war es absolut normal, dass ein solches Fahrzeug hier stand – absolut
natürlich
, wie ein Illusionist es ausdrücken würde.
Sehen Sie nur, verehrtes Publikum, hier ist Ihr Illusionist, mitten auf der Bühne und doch vollständig unsichtbar.
Er ist der Verschwundene – zugegen, aber unbemerkt.
Niemand würdigte die Ambulanz auch nur eines Blicks, und dabei handelte es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Krankenwagen, sondern um ein Falsum. Statt der medizinischen Ausrüstung enthielt der Laderaum nun ein Dutzend Plastikfässer mit insgesamt zweitausendsechshundertfünfzig Litern Benzin. Eine simple Zündvorrichtung würde die
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